8 Politische Forderungen zur Förderung sozial-ökologischer Innovationen
Forderungspapier zur Förderung von Pionier*innen der sozial-ökologischen Transformation der Ernährungssysteme
Dieses Forderungspapier entstand in einem partizipativen Prozess unter Beteiligung und Berücksichtigung der Vorschläge von über 100 Pionier*innen sozial-ökologischer Innovationen1 aus ganz Europa zu Beginn des Jahres 2024. Es bündelt Forderungen an politische Entscheidungsträger*innen, die Umsetzung sozial-ökologischer Innovationen der Ernährungssysteme zu unterstützen und zu fördern.
Die Ernährungssysteme in Europa sind durch ihre Vielfalt geprägt, die sich unter anderem aus der individuellen sowie der regionalen Geschichte, den geografischen Gegebenheiten sowie der Verteilung der natürlichen Ressourcen ergibt. Ein gemeinsames Merkmal aller Länder und Regionen ist die gegenwärtig fehlende Nachhaltigkeit, die sich über die verschiedenen Prozessstufen der Ernährungssysteme hinweg erstreckt. Der anhaltende Verlust der biologischen Vielfalt, eine fortschreitende Bodendegradation, gravierende Wasserverschmutzung und -übernutzung sowie die enormen Emissionen klimaschädlicher Gase offenbaren die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation der Ernährungssysteme.
Die Pionier*innen der sozial-ökologischen Transformation zeigen auf, dass und wie es möglich ist, ein Ernährungssystem zu etablieren, das nachhaltig, gesund und umweltfreundlich ist und im Einklang mit den planetaren Grenzen steht. Das Potenzial dieser Initiativen für einen Beitrag zum nachhaltigen Systemwandel entfaltet sich, auch gemäß den Erkenntnissen der Transformationsforschung, insbesondere dann, wenn diese innovativen Praktiken den optimalen Zeitpunkt finden, um in den Mainstream zu gelangen und sich zu verbreiten. Mit zunehmendem Wachstum und der Verbindung mit anderen Pionier*innen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dauerhafte Veränderungen im Ernährungssystem bewirken können. Trotz zahlreicher sozial-ökologischer Innovationen in Europa sind diese aktuell im politischen Bewusstsein sowie im öffentlichen Diskurs häufig noch unterrepräsentiert. Dies zu ändern, obliegt auch den politischen Entscheidungsträger*innen, um damit zum erforderlichen Wandel des europäischen Ernährungssystems sowie zur Stärkung der Pionier*innen und deren Arbeit beizutragen.
Die nachfolgend aufgeführten acht Forderungen richten sich primär an politische Entscheidungsträger*innen, die dazu beitragen sollen, die Hürden und Hemmnisse, mit denen sich die Pionier*innen der sozial-ökologischen Transformation konfrontiert sehen, zu beseitigen und die Pionier*innen dabei zu unterstützen, die Ausbreitung von sozial-ökologischen Innovationen voranzutreiben und damit die dringend notwendige, nachhaltige Transformation der Ernährungssysteme zu beschleunigen.
1 Sozial-ökologische Innovationen des Ernährungssystems umfassen neuartige Ansätze, Produkte, Praktiken oder Modelle, die darauf abzielen, das Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten. Sie vereinen ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit und gehen von verschiedenen Akteursgruppen wie staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, transformativen Unternehmen sowie Individuen und ihren Konsumentscheidungen aus. Beispiele hierfür sind u. a. die Initiativen “Solidarische Landwirtschaft”, “Ernährungsräte” und das Konzept “Essbare Städte”.
Gesellschaftliche Herausforderungen, wie der Klimawandel, verstärken die Dringlichkeit der Suche nach alternativen Lösungen. Die Verbreitung und Vernetzung zahlreicher sozial-ökologischer Innovationen erhöht das Potenzial, nachhaltige Anpassungen im Ernährungssystem zu bewirken.
1. Anerkennung sozial-ökologischer Innovationen als Treiber der Transformation
Sozial-ökologische Innovationen sind erprobte und bewährte Praktiken und Treiber der Transformation der Ernährungssysteme und sollten aufgrund ihrer signifikanten Bedeutung stärker politisch anerkannt und gefördert werden.
Dazu ist ein verbesserter Austausch zwischen den Pionier*innen und den politischen Entscheidungsträger*innen zu etablieren. Dieser soll dazu dienen, die Anliegen und Forderungen der Pionier*innen bei politischen Entscheidungsfindungsprozessen besser zu berücksichtigen.
2. Finanzielle Förderung von Praxis und Forschung
Eine unbürokratische finanzielle Unterstützung der praktischen Arbeit von innovativen kleinen Vereinigungen, Organisationen und Unternehmen ist elementar für den Fortschritt der sozial-ökologischen Transformation der Ernährungssysteme. Aktuell erfolgen der Aufbau und häufig auch die Arbeit allein durch ehrenamtliches Engagement. Hier ist eine Stärkung und Absicherung der Strukturen durch bezahlte Mitwirkende dringend geboten.
Fördergelder und Subventionen könnten gezielt für sozial-ökologische Innovationen in benachteiligten Regionen ausgelobt werden, z. B. für sog. Solidaritätstische, die Menschen in benachteiligten Regionen mit Lebensmitteln versorgen. Die Fördermodalitäten sollten so niedrigschwellig sein, dass der Zugang auch für kleine Projekte und Organisationen möglich ist.
Auch die Finanzierung von Forschungsprojekten zur Nachhaltigkeit und Wirkung von einzelnen sozial-ökologischen Innovationen sollte ermöglicht bzw. verstärkt werden. Die Finanzierung sollte langfristig angelegt sein und es sollte sichergestellt werden, dass die Erkenntnisse nach Projektende nicht verloren gehen.
3. Kooperationen und Vernetzung fördern
Kooperationen und Netzwerke spielen für viele Pionier*innen eine große Rolle. Sie dienen nicht nur dem inhaltlichen, fachlichen Austausch, sondern sie beinhalten auch die gemeinsame Nutzung von Ressourcen.
Die Entwicklung von Netzwerken zwischen Projekten innerhalb einer Innovation sowie übergreifende und interdisziplinäre Netzwerke sollten daher finanziell unterstützt werden, ebenso wie bereits bestehende Netzwerke.
Wichtig ist auch die Förderung des Austauschs zwischen Akteur*innen unterschiedlicher Prozessstufen oder Berufsfelder wie Landwirt*innen und Forscher*innen.
Auch die Kooperation und Vernetzung auf regionaler Ebene sollte unterstützt werden. Dazu ist die Bereitstellung regionaler Infrastruktur, wie beispielsweise von Räumlichkeiten zur gemeinsamen und vielfältigen Nutzung je nach Innovation hilfreich, z. B. für Wasch- und Verpackungsanlagen, Gemeinschaftsküchen, Lagerräume. Eine gemeinsame Logistik kann z. B. durch die Bereitstellung von gemeinsam zu nutzenden Fahrzeugen zur Unterstützung der Pionier*innen beitragen. Zudem können ungenutzte öffentliche Flächen für die Aktivitäten bereitgestellt werden und so zum Gemeinwohl eines regional nachhaltigeren Ernährungssystems beitragen.
Politische Entscheidungsträger*innen können dafür sorgen, dass Gesetze und Good-Practice-Beispiele aus anderen Ländern und Regionen herangezogen werden, um von diesen zu lernen und sie an die jeweils vorliegenden Bedingungen anzupassen, wie z. B. die bereits vorhandenen gesetzlichen Regelungen zu Bio-Distrikten in Italien.
Zur Erleichterung (internationaler) Kooperationen können politische Entscheidungsträger*innen an der Etablierung von Standards (i. S. v. Good Practices) mitwirken, wie beispielsweise zur Nutzung von Daten und Datenprotokollen.
Eine verstärkte Förderung der verbesserten Zugänglichkeit sowie des Schutzes vor Privatisierung, wie sie beispielsweise durch Konzepte wie "Open Source", "Free Software" oder "Open Access" vorangetrieben wird, trägt ebenfalls zur Intensivierung der Kooperation bei und sollte seitens der politischen Entscheidungsträger*innen unterstützt werden.
4. Regionale, saisonale und ökologische Ernährung fördern
Die Förderung von Ernährungssystemen nach saisonalen, regionalen und ökologischen Gesichtspunkten kommt nicht nur der Umwelt zugute, sondern fördert auch die Entwicklung sozial-ökologischer Innovationen, beispielsweise im Kontext von Bio-Distrikten, solidarischen Landwirtschaftsbetrieben, Regionalwert-AG oder den sog. essbaren Städten.
Zu wichtigen Maßnahmen, um den Konsum regionaler Lebensmittel zu fördern, gehören beispielsweise die niedrigschwellige Förderung besonderer ökologischer Leistungen bei der Erzeugung regionaler Lebensmittel sowie die verpflichtende Einführung von Speiseplänen mit regionalen, saisonalen und ökologischen Zutaten in Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung. Regionale Lebensmittel sollten stets eine sowohl kostengünstige als auch komfortable Wahl für Konsument*innen sein.
Darüber hinaus können kommunale Gesetze beispielsweise zu den Gebühren auf Märkten oder zur Standvergabe bei lokalen Festen und Events lokale Lebensmittelversorgungsketten fördern.
Um Regionalität zusätzlich zu fördern, können insbesondere Kommunalpolitiker*innen dazu beitragen, das Image der eigenen Region zu verbessern (möglicherweise in Synergie mit der Stärkung von nachhaltigem Tourismus) und dadurch die Bereitschaft zur Unterstützung der eigenen Region bei Konsument*innen stärken.
Die Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen regional ansässigen Produzent*innen und Abnehmer*innen betrifft nicht nur den Lebensmittelhandel, sondern ebenso die Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung. Hier könnte z. B. die kommunale Gesetzgebung lokale Lebensmittelversorgungsketten fördern.
5. Zugang zu Land verbessern
Pionier*innen der sozial-ökologischen Transformation haben häufig Schwierigkeiten, Zugang zu Land zu erhalten, da sie unter anderem aufgrund kleiner Produktionsmengen und der Anwendung nachhaltiger Praktiken keine hohen Pacht- oder Kaufpreise zahlen können.
Durch die Implementierung von Nachhaltigkeitskriterien für die Landvergabe kann sichergestellt werden, dass zum einen die Nutzung im Einklang mit ökologischen Prinzipien steht und zum anderen, dass kleine und nachhaltig wirtschaftende Betriebe eine erhöhte Chance auf Zugang zu Land erhalten. Des Weiteren sollen Rahmenbedingungen so ausgelegt sein, dass eine langfristig orientierte Landnutzung möglich ist.
Ein Ansatz wäre z. B. Land in Treuhandschaften oder gemeinwohlorientierten Rechtsformen vor Marktkräften zu schützen und Pionier*innen der Ernährungswende den Zugang zu Land zu erleichtern. Öffentliche Förderung soll dabei bürgergetragene und gemeinschaftsorientierte Formen des Landbesitzes in der Aufbauphase unterstützen.
6. Kleine und nachhaltig wirtschaftende Unternehmen fördern
Sozial-ökologische Innovationen fangen meist klein an. Auch wenn sie sich bewährt haben, agieren sie häufig dezentral und in ihrem regionalen Kontext. Akteur*innen, die diesen Pionier*innen folgen, fangen ebenso zunächst meist klein an. Zudem fällt ihre innovative Handlung häufig nicht in klassische Förderungs- und Subventionsschemata (wie z. B. das der GAP). Um allerdings diese wichtigen Treiber der Transformation des Ernährungssystems zu unterstützen, ist die Förderung von kleinen und nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen entlang aller Prozessstufen erforderlich.
Um der Pionierarbeit den Weg zu erleichtern, sind Maßnahmen zur Vereinfachung der Einhaltung von Lebensmittelsicherheitsanforderungen und der Abbau von bürokratischen Hürden, wie beispielsweise bei Baugenehmigungen nötig. Zudem sollte kleinen Unternehmen, die häufig nur über begrenzte Ressourcen verfügen, der Weg zur Zertifizierung, beispielsweise mit dem Bio-Siegel, erleichtert werden.
Eine höhere Besteuerung für Unternehmen, die nicht sozial und ökologisch nachhaltig wirtschaften, könnte zusätzliche Steuereinnahmen generieren, welche im Gegenzug in die Finanzierung sozial-ökologischer Innovationen fließen könnten. Auf diese Weise würde nachhaltiges Wirtschaften gefördert und Unternehmen würden insgesamt motiviert werden, soziale und ökologische Standards zu integrieren.
7. Zahlungsbereitschaft durch Bildungsmaßnahmen erhöhen
Die Zahlungsbereitschaft der Konsument*innen wirkt sich unmittelbar auf die Nachfrage nach dem Angebot von Akteur*innen der sozial-ökologischen Transformation aus (beispielsweise nach den Erzeugnissen solidarischer Landwirtschaftsbetriebe oder Agroforstsystemen). Durch Bildungsmaßnahmen entsteht die Möglichkeit, dass sich die Zahlungsbereitschaft der Konsument*innen eher an der Nachhaltigkeit der Produkte orientiert.
Es ist wichtig, dass Konsument*innen über nicht nachhaltige, unfaire und unsoziale Praktiken der Lebensmittelproduktion entlang der gesamten Wertschöpfungskette informiert sind und eine Vorstellung davon entwickeln können, wodurch sich nachhaltige Produkte auszeichnen und welche Preise für nachhaltige und fair produzierte Lebensmittel angemessen sind.
Konsument*innen müssen Informationen dazu erlangen können, welche Qualität einzelne Produkte auszeichnet, auch mit Blick auf ökologische, ökonomische und soziale Aspekte.
Politische Entscheidungsträger*innen können die Zahlungsbereitschaft der Konsument*innen durch diverse Informationsangebote, Informationskampagnen, Labels, Apps und weitere digitale Anwendungen fördern. Zudem sollten Ernährungsbildung und Bildungsangebote zu nachhaltigen Ernährungssystemen fester Bestandteil der Lehre an Schulen und Universitäten sein.
8. Zahlungsmöglichkeiten verbessern
Eine verbesserte Zahlungsbereitschaft der Konsument*innen ist nicht ausreichend, wenn bei diesen die entsprechenden Zahlungsmöglichkeiten nicht gegeben sind. Auch diese müssen verbessert werden. Dies kann z. B. durch die Orientierung der Konsumsteuern an Nachhaltigkeitsaspekten von Lebensmitteln erfolgen, was zu einer Senkung der Preise für nach nachhaltigen Kriterien produzierten Lebensmittel führt.
Im Übrigen können die Zahlungsmöglichkeiten von finanziell benachteiligten Haushalten durch eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen verbessert werden.