Weltweit vereint Food-Aktivist*innen der Wunsch, sich aus dem Würgegriff industrieller Lebensmittelproduktion zu lösen. Ob in San Francisco, Berlin oder Shanghai, überall bauen Aktivist*innen Gegenmodelle auf, sogenannte alternative Lebensmittel-Netzwerke (Alternative Food Networks, AFNs), die die Logik des konventionellen Marktes überwinden oder zumindest erweitern sollen. Die Aktivist*innen wollen dadurch ein besseres Lebensmittelsystem für alle schaffen. Eines, das gesunde und sichere Lebensmittel produziert, Bäuer*innen ein einträgliches Einkommen sichert, das gerecht ist, die Umwelt schützt und natürliche Ressourcen schont.
Die Suche nach Alternativen unter radikal anderen Voraussetzungen
Auch in China ist das der Fall. Seit der Reform- und Öffnungsphase ab Ende der 1970er Jahre machte das Land einen dramatischen industriellen Wandel durch - heute sieht es sich verstärkt mit Landflucht, verseuchten Böden und vergifteten Lebensmitteln konfrontiert. Als Antwort darauf begehren Food-Aktivist*innen auf und schließen sich zu einem „Good Food Movement“ zusammen (Zhang 2018).
Im Gegensatz zu ihren Mitstreiter*innen im globalen Norden, wo die ersten AFNs entstanden, agieren die chinesischen Food-Aktivist*innen in einem Land, das noch in jüngster Geschichte mit Hungersnöten zu kämpfen hatte. Gleichzeitig wandelte sich das Land von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft, während es weiterhin als sogenanntes “Upper-middle-income country” gilt - kein Entwicklungsland mehr, aber auch noch nicht vollständig in den Rang einer entwickelten Industrienation aufgestiegen. Obendrein müssen sie sich auf die Unwägbarkeiten eines autoritären politischen Systems einstellen, was ihren Möglichkeiten oft enge Grenzen setzt.
Dramatischer Wandel führt zu bedenklichen Lebensmitteln
Nichtsdestotrotz kämpft China zunächst einmal mit Problemen, die auch Food-Aktivist*innen in anderen Ländern bekannt sind: ein Lebensmittelsystem, das zunehmend industriell produziert, global operiert und dabei die Umwelt verschmutzt, Verbraucher*innen, die von der Produktion ihrer Lebensmittel entfremdet sind und ländliche Gebiete, die wirtschaftlich derart abgehängt sind, dass junge Arbeitskräfte massenweise aus der Landwirtschaft abwandern und ihr Glück in den Städten des Landes suchen (Garnett & Wilkes 2014).
Trotz dieser Vielzahl von Herausforderungen bereitet chinesischen Verbraucher*innen vor allem ein Problem Kopfzerbrechen: Lebensmittelsicherheit. Sie sorgen sich, dass ihr Essen übermäßig stark mit Chemikalien und Hormonen aus der Landwirtschaft, mit schädlichen Lebensmittelzusätzen oder gar mit illegalen Substanzen belastet sein könnte (Si et al. 2017). Diese Sorgen sind mehr als berechtigt.
Der Ende der 1970er Jahre eingeläutete Reform- und Öffnungsprozess, der das Land zum globalen Wirtschaftsmotor beförderte, sorgte für dramatische Produktionszuwächse auch in der Landwirtschaft. Diese wurden hauptsächlich durch eine Chemie-intensive industrielle Modernisierung der Landwirtschaft erreicht, diedie Verbrauche von Pestiziden und chemischen Düngemitteln in die Höhe schnellen ließ (Holdaway & Husain 2014).
International Spitzenreiter beim Pestizideinsatz auf dem Feld
2014 wurden auf chinesischen Feldern 14 kg Pestizide pro Hektar ausgebracht, ein Anstieg um 66,2 % gegenüber 1995. Zum Vergleich: in den USA waren es 2,2 kg/ha, in Deutschland 2,5 kg/ha (Bluemling 2017: 117; NABU 2021). Bei der Verwendung von chemischen Düngemitteln sieht es nicht anders aus: 1972 wurde mit internationaler Hilfe die erste Fabrik für Kunstdünger eröffnet; um die Jahrtausendwende hatte sich das Land bereits zum globalen Exporteur aufgeschwungen. 2016 wurden 503,3 kg Kunstdünger pro Hektar ausgetragen, im Vergleich zu 138,6 kg/ha in den USA und 197,2 kg/ha in Deutschland (World Bank 2021). Damit ist China sowohl bei der Pestizid- als auch der Kunstdüngeranwendung international mit ganz vorn.
Doch nicht nur Pestizide und Kunstdünger belasten Chinas Böden und Lebensmittel: Das massive Wachstum in der Viehzucht hat die Menge an Gülle, die oft unbehandelt auf den Äckern landet, durch die Decke schießen lassen. 2011 verursachte der Viehsektor 38 % der landwirtschaftlichen Stickstoff- und 56 % der Phosphorverschmutzung (Bluemling 2017: 120).
Auch wenn Chinas Industrie mitverantwortlich für die Verschmutzung der Äcker ist – besonders durch die Belastung mit Schwermetallen – so gilt doch die Landwirtschaft als Hauptursache für verschmutzte Ackerböden. Das zeigte eine 2010 vom chinesischen Umweltministerium veröffentlichte, aber schnell wieder zurückgezogene, nationale Studie (Watts 2010).
Gewissenlose Hersteller*innen und illegale Praktiken
Als ob diese Probleme noch nicht genug wären, hat die Ausrichtung am Profit bei einem gleichzeitig noch schlecht entwickelten rechtlichen Rahmenwerk und mangelnder staatlicher Kontrolle weitere negative Entwicklungen beschleunigt: Hersteller*innen im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe verwenden großzügig Antibiotika, Hormone und Zusatzstoffe, um ihren Ertrag zu steigern und ihre Produkte attraktiver und schmackhafter zu machen. Auch vor illegalen Praktiken scheut so manche*r Hersteller*in nicht zurück, wenn dabei Profit winkt. Der Melamin-Skandal von 2008, bei dem Hunderttausende chinesischer Säuglinge mit illegal verdünntem, aber mit Melamin angereicherten Milchprodukten vergiftet wurden, hat auch in der deutschen Presse für Aufsehen gesorgt.
Großbetriebe, Standardisierung, Dokumentation und Kontrolle
Angesichts dieser Vielzahl von Problemen ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit chinesischer Lebensmittel geschwunden. Teilweise wird bereits von einer „Vertrauenskrise“ gesprochen. Die Führung des Landes hat darauf reagiert, indem sie Missetätern im Lebensmittelsystem den Kampf angesagt hat, das institutionelle Qualitätssicherungssystem ausbaut und gleichzeitig die industrielle Modernisierung der Lebensmittelproduktion weiter vorantreibt. Die chinesische Regierung will so ein Lebensmittelsicherheits-Regime aufbauen, das auf Standardisierung, kleinteilige Dokumentation und strikte Kontrollen setzt.
Konkret beinhaltet dies den Ausbau und die Verschärfung von Gesetzen, Regularien und Standards, behördliche Umstrukturierungen und den Ausbau von Kapazitäten innerhalb der staatlichen Lebensmittelsicherheitsbehörde. Gleichzeitig versucht der Parteistaat den Lebensmittelsektor zu konsolidieren und Betriebsgrößen zu erhöhen, indem er vertikale Integration und horizontale Koordination von Betrieben fördert. Dahinter steht der Gedanke, dass kleine Strukturen eine Hauptursache von Problemen der Lebensmittelsicherheit seien. Fragmentierte Industrien und die Vielzahl kleiner Betriebe in Produktion, Herstellung, Vertrieb und Gastronomie würden staatliche Kontrollen erschweren. Kleinen Betrieben mangele es zudem – so die parteistaatliche Argumentation – an Kapital und Expertise, was sowohl die Produktivität als auch die Einhaltung von Qualitätsstandards behindere (Holdaway & Husain 2014, Scott et al. 2014).
Öko-Landwirtschaft mit chinesischen Eigenheiten
Auch der Ökolandbau wird von der chinesischen Regierung zunehmend als ein Teil der Lösung vorangetrieben. Der Nationale Entwicklungsplan für Nachhaltige Landwirtschaft (2015-2020), den das Landwirtschaftsministerium 2015 veröffentlichte, nimmt zentral darauf Bezug. Gewichtige Dokumente zur Landwirtschaftspolitik rücken verstärkt „ressourcenschonende, umweltfreundliche Landwirtschaft“ und „Kreislauf-Landwirtschaft“ in den Fokus.
Weil die Technologie-überzeugte und technokratisch ausgerichtete chinesische Regierung allerdings daran zweifelt, dass der Biolandbau genügend Nahrung für die chinesische Bevölkerung produzieren kann, wird auch weiterhin auf Biotechnologie und Genmodifizierung gesetzt. Neben dem Bio-Siegel hat die Regierung zudem ein eigenes Öko-Siegel konzipiert, das sogenannte „Green-Food“-Siegel, bei dem festgelegte Mengen und bestimmte Klassen von Pestiziden und Kunstdünger erlaubt bleiben. Die chinesische Regierung gibt einer strikt geführten und Technologie-intensiven ‚Öko‘-Landwirtschaft den Vorzug. (Scott et al. 2014)
Der Aufstieg von Chinas Alternative Food Networks
Trotz dieser staatlichen Maßnahmen mangelt es Verbraucher*innen an Vertrauen in das staatliche Kontrollsystem. Wiederkehrende Lebensmittelskandale und weitverbreiteter Betrug bei der Vergabe von Green-Food- und besonders bei Bio-Zertifikaten behindern die Vertrauensbildung in staatliche Maßnahmen zur Gewährleistung von Lebensmittelsicherheit (Si et al. 2017, Voß 2015). Deswegen suchen Verbraucher*innen nach alternativen Strategien mit denen Lebensmittelsicherheits-Risiken minimiert werden können. Dabei greifen sie zunehmend auf AFNs zurück, um in direkten Kontakt mit Lebensmittelproduzent*innen zu treten und so zu verstehen, wo ihre Lebensmittel herkommen und wie sie produziert wurden (Schumilas et al. 2016, Si et al. 2015).
Seit 2008 begannen sich um die großen Städte des Landes herum die ersten solidarischen Landwirtschaftsgemeinschaften zu bilden (den Anfang machte 2008 die „Little Donkey“ SoLaWi in Beijing), die ersten ökologischen Bauernmärkte wurden gegründet (2010 der Beijing Organic Farmers‘ Market) und zivilgesellschaftliche Bio-Pioniere begannen sich zu vernetzen. Heute schießen ökologische Bauernmärkte und SoLaWi-Initiativen sprichwörtlich aus dem Boden. Bio ist “in” in China (Scott et al. 2018, Shi et al. 2011).
Food-Aktivismus in einem repressiven System
Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass den Möglichkeiten von Verbraucher*innen, Wandel innerhalb des Mainstream-Systems herbeizuführen, enge Grenzen gesteckt sind. Zwar setzt die Regierung im Bereich des Umweltschutzes und der Lebensmittelsicherheit zunehmend auf sogenannte „social co-governance“, also die Einbeziehung von Akteuren aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Allerdings sollen Verbraucher*innen vor allem bei staatlichen Hotlines und Social Media Accounts Beschwerde einlegen und als Whistleblower fungieren, maximal können sie mithilfe einer dafür zugelassenen NGO eine Popularklage anstrengen. Weil Verbraucher*innen jedoch nur schwer an zuverlässige Informationen kommen und bei staatliche Stellen oft auf Granit beißen, ist dies kein leichtes Unterfangen. Sich zu organisieren, um auf politischem Wege öffentliche Interessen zu verfechten, sei es durch Demos oder Lobbyarbeit, bleibt ihnen verwehrt (Zhang et al. 2019).
Pragmatische, lokale Lösungen, um Vertrauen wiederherzustellen
Somit bleibt also nur die Möglichkeit, mit dem Essstäbchen „wählen“ zu gehen und ganz pragmatisch sichere und umweltschonende Alternativen aufzubauen. olche Projekte werden in China meist von Verbraucher*innen vorangetrieben. Auch Chinas kleinbäuerliche Biopioniere sind für gewöhnlich nicht traditionelle Bäuer*innen, sondern Verbraucher*innen, die aus Verzweiflung über den Mainstream-Markt kurzerhand ein Stück Land pachten, um die eigene Scholle zu bewirtschaften (Schumilas et al. 2016).
Der Tenor ist daher die Suche nach pragmatischen und lokalen Lösungen. Dementsprechend liegt der Fokus chinesischer AFNs auf der Bereitstellung sicherer, gesunder und nachhaltig produzierter Lebensmittel für Verbraucher*innen und auf der Schaffung von direkten Absatzmärkten. Sei es der Schwatz mit der Bäuerin auf dem Markt, ein Hofbesuch am Wochenende, der Blog, auf dem der Bauer von seiner Praxis berichtet oder die Livecam im Viehstall: Verbraucher*innen ist es ein großes Anliegen, zu wissen wo und wie ihr Essen produziert wird. Nur so können sie verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen.
Globale Anleihen….
Trotz dieses Fokus auf Gesundheit und Sicherheit sind gerade die Gründer*innen und Organisator*innen chinesischer AFNs auch von ökologischen und sozialen Motiven angetrieben. Nicht selten kamen sie mit dem Gedankengut der internationalen Umweltbewegung in Kontakt. Chang Tianle beispielsweise, eine der Mitbegründer*innen und treibende Kraft hinter dem Beijing Organic Farmers‘ Market, studierte in den USA und arbeitete anschließend für das Alternative Institute of Agriculture and Trade Policy, bevor sie sich vollständig dem ökologischen Bauernmarkt widmete. Yi Xiaowu, der Gründer von Fangcundi, dem größten ökologischen Bauernmarkt Shanghais, engagierte sich ehrenamtlich bei Friends of Nature (Chinas größter Umwelt-NGO) und Greenpeace, bevor ihn die Sorge um die Gesundheit seiner neugeborenen Tochter bewog, sich mit Landwirtschaft zu befassen.
… und lokale Anliegen
Gleichzeitig reflektieren diese Öko-Pioniere die spezifischen ländlichen Probleme Chinas. Chinas Food-Aktivismus wird nämlich von einer Bewegung mitgeprägt, die in China als “New Rural Reconstruction Movement” (NRRM) bekannt ist - die Neue Bewegung für Ländlichen Wiederaufbau. Diese Bewegung wird getragen von Intellektuellen und auf dem Land arbeitenden Aktivist*innen. Ihre Anhänger*innen kritisieren, dass sich staatliche Entwicklungsmaßnahmen für ländliche Gebiete allein auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränken.
Im Gegensatz dazu verweisen die NRRM-Aktivist*innen darauf, dass Chinas Modernisierung die Landbevölkerung marginalisiert, deren soziale und kulturelle Bande zerstört, und die ländliche Gesellschaft fragmentiert hat. Vom Rest der Chines*innen werden Landbewohner*innen als “rückständig”, “unzivilisiert” und “von niederer Qualität” angesehen. Dem bäuerlichen Status haftet ein scheinbar unüberwindliches gesellschaftliches Stigma an. Und so wird die ländliche Bevölkerung konsequent ausgeschlossen, selbst wenn es darum geht zu entscheiden, wie moderne Landwirtschaft auszusehen hat und wie ländliche Entwicklung gestaltet werden soll (Scott et al. 2018).
Vorurteile abbauen, kleinbäuerliche Strukturen stärken
Viele Food-Aktivist*innen wollen deshalb zu einer Stärkung des ländlichen Raums, einer Aufwertung der traditionellen dörflichen Kultur und der Wertschätzung für das oft Jahrhunderte alte landwirtschaftliche Wissen der Bäuer*innen Chinas beitragen. AFNs sollen Plattformen für den Austausch zwischen Stadt und Land sein, im Rahmen derer sich Verbraucher*innen und Produzent*innen treffen und sich solidarisch zeigen, um bestehende Ungleichheiten und Vorurteile abzubauen (Si et al. 2015).
Gemeinsam ist vielen von Chinas AFNs die Ablehnung von institutionellen, durch Audits verifizierten Öko-Standards. Einer ihrer Hauptkritikpunkte ist, dass die staatlichen Zertifizierungen Kleinbäuer*innen strukturell benachteiligen und für diese unerschwinglich sind. Weil viele AFN-Organisator*innen die Lösung aber nicht in der staatlichen Vision von öko-moderner Landwirtschaft, sondern in kleinbäuerlichen Strukturen sehen, suchen sie stattdessen nach alternativen Möglichkeiten, um Sicherheit und Qualität zu gewährleisten, etwa durch die persönliche Reputation von Bäuer*innen und gemeinschaftlich festgelegte und überprüfte Standards und Garantien.
Die Macht ökonomischer Zwänge
Die hehren Ziele der Organisator*innen von Chinas AFNs stoßen häufig auf zwei erhebliche Widerstände: die Logik des Marktes und die Prioritäten der Verbraucher*innen. Food-Aktivist*innen ist es wichtig, einen erweiterten Qualitätsbegriff anzuwenden und ökonomische mit sozialen und ökologischen Erwägungen auszubalancieren. Verbraucher*innen sind dagegen auch in China dazu sozialisiert, einen geringen Preis als einen guten Deal für sich selbst zu bewerten. Zudem geben Chines*innen im Vergleich zu Bürger*innen in Industrienationen auch noch einen relativ hohen Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aus.
Da aufgrund des geringen Umschlagvolumens der Preisunterschied zwischen regulärer Ware und Bio-zertifizierten oder durch AFNs vertriebenen Lebensmitteln extrem hoch ist – der Preisaufschlag kann bei 100 % und mehr liegen! – entscheiden sich chinesische Verbraucher*innen dazu, nur einen Teil ihres Bedarfs im Rahmen von AFNs zu decken. Sie konzentrieren sich dabei auf Lebensmittel, bei denen sie die Schadstoffbelastung besonders fürchten. Das sind in China vor allem Obst und Gemüse sowie tierische Produkte, da chinesische Verbraucher*innen hier eine hohe Belastung mit Pestiziden, Kunstdünger, Hormonen und Antibiotika vermuten. Andere Lebensmittel werden dann im Supermarkt zugekauft.
Wertschätzung für die Errungenschaften des industriellen, globalen Lebensmittelsystems
Noch in jüngster Geschichte wurde China zudem von Hungersnöten erschüttert. Die ältere Generation, die die Kulturrevolution (1966-1976) miterlebt hat, erinnert sich an diese leidvollen Zeiten. Aber auch Chines*innen, die die frühe Phase der Reform- und Öffnungszeit erfahren haben, wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Auswahl an Lebensmitteln stark begrenzt ist und tierische Produkte einen absoluten Luxus darstellen.
Die Transformation des Lebensmittelsystems, welche den Chines*innen ein reichhaltiges Angebot und eine große Auswahl beschert hat, wird deswegen (noch immer) als überwiegend positiv bewertet. Viele Chines*innen lieben es, im Supermarkt einkaufen zu gehen und Gerichte fremder Küchen sowie exotische Lebensmittel auszuprobieren. Olivenöl aus Spanien, Wein aus Südafrika, Avocados aus Mexiko – solche Produkte genießen Popularität und werden als Ausdruck eines modernen und kosmopolitischen Lebensstils verstanden (Veeck et al. 2010). Regionalisierung als Gegenmodell zur Globalisierung erscheint deswegen den Wenigsten als wünschenswert. Die geringe Auswahl auf einem ökologischen Bauernmarkt wird dagegen als Manko verstanden.
Der steinige Weg der chinesischen Food-Aktivist*innen
Die größte Herausforderung, vor der AFN-Organisator*innen in China stehen, besteht darin, den engen Fokus von Verbraucher*innen auf das Thema Lebensmittelsicherheit zu durchbrechen. Untersuchungen chinesischer AFNs und Umfragen unter deren Verbraucher*innen deuten immer wieder darauf hin, dass sich das Interesse an Umweltschutz und ganz besonders an ländlicher Entwicklung und gerechter Bezahlung von Produzent*innen in Grenzen hält (Si et al. 2015).
Lebensmittel durch ein AFN zu erwerben dient für Verbraucher*innen als Mittel zum Zweck, um gegen einen Aufpreis sichere und gesunde Lebensmittel zu beziehen. Oft fällt es Organisator*innen schwer, sie für ein darüber hinausgehendes Engagement zu begeistern. Chinesische SoLaWis operieren auf der Basis von Abos (vergleichbar eines Biokisten-Abos in Deutschland) und nicht, wie anderswo üblich, auf der Basis eines Beitragsmodells. Das heißt, Verbraucher*innen erhalten für einen vereinbarten Preis eine feste Menge an Lebensmitteln. Produktionsrisiken, wie beispielsweise witterungsbedingte Ernteausfälle, sind von den Produzent*innen alleine zu tragen.
Eine noch kleine Bewegung...
Auch steht der Food-Aktivismus in China noch relativ am Anfang. Bisher gibt es nur Schätzungen über das Ausmaß der Bewegung. Ökologische Bauernmärkte wurden bisher in etwa 20 der großen chinesischen Städte gegründet (Zhang 2018). Stefanie Scott und ihre Kolleg*innen sprechen von etwa 500 SoLaWis in China (Scott et al. 2018), verweisen aber darauf, dass sich die Ermittlung einer genauen Anzahl schwierig gestaltet, da der Begriff SoLaWi in China inzwischen eine gewisse Popularität genießt und daher häufig zu Marketing-Zwecken verwendet wird.
In Anbetracht der Größe des Landes ist diese Zahl verschwindend gering und zeigt gleichzeitig, wie gewaltig das Unterfangen ist, Chinas Lebensmittelsystem von der Basis her verändern zu wollen. Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen: Die Vernetzung zwischen AFN-Aktivist*innen in China ist stark und Leuchtturm-Projekte wie die Little Donkey SoLaWi und der Beijing Organic Farmers’ Market werden landesweit kopiert. 2012 gründeten Chinas SoLaWi-Bäuer*innen das Nationale Kooperationsnetzwerk für Ökologische Landwirtschaft, das 2017 in Chinesische SoLaWi Allianz für Sozial-Ökologische Landwirtschaft umbenannt und als soziale Organisation registriert wurde. Auch erhalten einige AFNs von Lokalregierungen Unterstützung, etwa in Form eines erleichterten Zugangs zu Land.
Beides zeigt, dass Food-Aktivismus in Form von alternativen Lebensmittel-Netzwerken von der chinesischen Regierung (noch) nicht als Bedrohung, im Gegenteil mitunter sogar als unterstützungswürdig wahrgenommen wird. Regierungsbeamte und Parteikader sehen in erster Linie mögliche Synergien mit ihren eigenen Zielen im Bereich der Lebensmittelsicherheit und der ländlichen Entwicklung.
… die Keimzelle für Veränderung ist
Insgesamt ist also festzustellen, dass chinesische Food-Aktivist*innen noch einen steinigen Weg vor sich haben, um Verbraucher*innen für ökologische und soziale Belange zu erwärmen. Nichtsdestotrotz ist ihre Arbeit unentbehrlich. AFNs – seien es ökologische Bauernmärkte, SolaWi-Gemeinschaften oder Gemeinschaftsgärten – sollen ja gerade als Orte des Lernens und der Transformation dienen.
Erst im Austausch mit den Produzent*innen, erst beim Kennenlernen von landwirtschaftlichen Zusammenhängen, entdecken viele Verbraucher*innen, dass Essen mehr als eine Ware ist, und dass Lebensmittelproduktion erst da nachhaltig sein kann, wo ökologische und soziale Werte realisiert sind. Wo dies geschieht, beginnen chinesische Verbraucher*innen ihre Rolle als Teilnehmer*innen im Rahmen der „food community“ neu zu verstehen (Zhang 2018).
Quellen
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