Pestizide gelten in der Agrarindustrie seit dem Zweiten Weltkrieg als »unentbehrlich«. […] Der stark ansteigende Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg muss allerdings auch im Zusammenhang mit dem etwa zeitgleich ansteigenden Einsatz synthetischer Stickstoffdünger, der zunehmenden Züchtung von Hochertragssorten und dem damit einhergehenden vermehrten intensiven Anbau von Monokulturen gesehen werden. Diese Komponenten der sog. »Grünen Revolution« hängen alle miteinander zusammen.
Intensive Stickstoffdüngung verursacht ein übermäßiges Wachstum in die Länge und weiche, schwammige Triebe sowie weiche Zellen und Gewebe. Pflanzen werden anfälliger gegenüber Frost, Hitze und Pflanzenschädlingen. Bakterien- und Pilzkrankheiten können sich leichter ausbreiten. Enge, einseitige Fruchtfolgen begünstigen Virus- und Pilzbefall. Enge Pflanzabstände begünstigen den Pilzbefall zusätzlich aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in der Pflanzenumgebung. Diese Effekte werden in jedem landwirtschaftlichen Lehrbuch seit Jahren beschrieben,1 in der fachlichen Praxis aber weitgehend ignoriert.
Die einseitige Optimierung der Ertragsleistung bei der Züchtung führt oft zur Schwächung der Stoffwechselleistung und der besonderen Abwehrkräfte, die die ursprünglichen Sorten noch besitzen. Diese Effekte verstärken sich gegenseitig. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Doch anstatt das Anbausystem zu überdenken, das diese negativen Effekte hervorruft, versucht man lieber, alle diese Auswirkungen zu kompensieren. Dafür gibt es eine große Auswahl an Bioziden, also giftigen »Hilfsmitteln«, die die Probleme lösen sollen und mit denen extrem viel Geld verdient werden kann.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Einsatz von Pestiziden mit zunehmender Intensivierung der Landwirtschaft weltweit ansteigt. Da macht Europa keine Ausnahme – trotz einer in internationalen Maßstäben restriktiven Gesetzgebung und seit 2009 verpflichtenden Aktionsplänen zum Nachhaltigen Pflanzenschutz (NAP).
Nach Angaben des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurden 2017 allein in Deutschland 101.372 Tonnen an Pestiziden mit über 34.583 Tonnen an Wirkstoffen verkauft. Seit dem Jahr 2000 ist der Absatz wieder erkennbar angestiegen, trotz angeblich wirksamerer Formulierungen. 2 […]
Optimierungsbedarf bei EU-Rahmenrichtlinie (NAP)
Neben der Zulassungsverordnung (EG) 1107/2009 und dem Pflanzenschutzgesetz bildet die Rahmenrichtlinie zur Nachhaltigen Verwendung von Pestiziden (2009/128/EG) (NAP) die zweite Säule der EU-Gesetzgebung zu Pflanzenschutzmitteln. Die Rahmenrichtlinie konzentriert sich nicht auf die Zulassung und Anwendung, sondern sie schreibt den Mitgliedstaaten seit fast zehn Jahren vor, die Abhängigkeit der Landwirtschaft von chemischen Pestiziden zu verringern. Es sollen Anbausysteme gefördert werden, die weniger Pestizide benötigen, um die Risiken von Pflanzenschutzmitteln für Mensch und Umwelt zu reduzieren. Wir haben also Richtlinien und Forderungen seitens der EU, die in die richtige Richtung weisen. Eine Überprüfung eben dieser Richtlinien in einem Initiativbericht des Europäischen Parlaments von 2018 (nicht zu verwechseln mit dem Bericht des Pestizidsonderausschusses) stellt jedoch fest, »dass die Ziele des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier sowie der Umwelt nicht vollständig erreicht werden«. 3
Kritisiert wurde beispielsweise, dass die NAP von den meisten Mitgliedstaaten nachlässig umgesetzt wird (z. B. Fehlen konkreter Zielsetzungen und konkreter Zeitpläne). 4 Als problematisch eingestuft wurde auch die Erhöhung der Ausnahmeregelungen (»Notfallgenehmigungen«) nach Artikel 53 der Zulassungsverordnung 1107/2009, z. B. bei den Neonikotinoiden. Hier wurde insbesondere angemahnt, dass Alternativen häufig erst nach einer Änderung der gesetzlichen Anforderungen ernsthaft erwogen werden. So habe die jüngste Bewertung (vom 30. Mai 2018) ergeben, dass es für 78 Prozent der Verwendungen von Neonikotinoiden leicht verfügbare, nichtchemische Alternativen gäbe. 5
Neben der Forderung nach der konsequenten Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips und größerer Transparenz beim Zulassungssystem fordert der Bericht auch, dass sinnvolle und konkrete Pestizidminderungsstrategien sowie Schulungen der Landwirte zu Alternativen in den Mitgliedstaaten erstellt und umgesetzt werden.
Nun ist es, wie oben dargelegt, ja keine neue Erkenntnis, dass Düngung, Anbausysteme und Züchtung sowohl zur Stärkung als auch zur Schwächung von Pflanzenbausystemen beitragen können. Langfristig sollte es meiner Ansicht nach Pflicht werden, dass sowohl die NAP als auch ein modernes EU-Zulassungssystem für »Pflanzenschutzmittel« als Basisvoraussetzung eine zwingende Evaluation und Datenbasis aller bekannten Pestizidminderungstechniken und Systemstärkungsmittel vorhalten sowie die intensivierte Erforschung und Züchtung in Richtung bekannter und noch unbekannter Stärkungsmechanismen forcieren müssen. Antragsteller sollten nachweisen müssen, dass die Zulassung eines Pestizids notwendig ist, weil es keine pflanzenbaulichen oder biologischen Möglichkeiten gibt, das Problem in den Griff zu bekommen.
Besser dosiert reicht nicht
Minderungsmaßnahmen in der Praxis dürfen sich nicht in »ein bisschen weniger spritzen mit digitaler Hilfe« erschöpfen, wie von Befürwortern der Präzisionslandwirtschaft so sehr gepriesen. Auch der sog. »integrierte Pflanzenschutz« reicht hier nicht aus. Denn er wird in der Praxis – obwohl gesetzliche Grundlage – kaum angewandt (außer vereinzelt im Obstbau und in Gewächshäusern 6). Es müssen bekannte agrarökologische Alternativen, wie organische Düngung, Fruchtfolgen mit Leguminosen, Zwischen- fruchtbau, angewandt sowie weitere gesucht und entwickelt werden. Ausnahmegenehmigungen, wie sie aktuell in vielen Mitgliedstaaten (unter Berufung auf den Artikel 53 der Zulassungsverordnung) für die drei verbotenen Neonikotinoide Clothianidin, Thiamethoxam und Imidacloprid erteilt werden, dürfen nur nach überprüfbarem Nachweis des Scheiterns aller anderen Alternativen gegeben werden. Der Ruf nach mehr, besseren, neueren und schneller zugelassenen Pflanzenschutzmitteln ist darüber hinaus rückwärtsgewandt und nicht mehr zeitgemäß. [...]
Beim Verbraucher steht der Pestizideinsatz verständlicherweise mehr und mehr in der Kritik. Ist doch die Vorstellung, dass ein Apfel oft erst nach 21 Spritzvorgängen auf dem Teller landet, nicht wirklich appetitlich. International haben inzwischen über 100 Supermarktketten entschieden, Neonikotinoide aus dem Sortiment zu nehmen. 7 In Österreich haben sich aktuell (Oktober 2018) über 300 und in Deutschland über 90 Gemeinden für einen Verzicht auf Glyphosat ausgesprochen. 8 Und auch Experten im Wissenschaftsmagazin Science haben inzwischen vermeldet, die Möglichkeiten im »Pflanzenschutz« seien weitestgehend ausgereizt. 9 Mehr und mehr Resistenzen lassen auch Befürworter des Pestizideinsatzes nachdenklich 53 Agrarpolitik und soziale Lage werden, ob das alles ökonomisch vertretbar ist. 10 Die Verkündung seitens der Industrie, nun »harmlose«, »biologische« Mittel zu entwickeln, kann höchstens als profitverlängernde Maßnahme für die Branche eingeordnet werden. Denn auch das ist nur Symptombekämpfung. Was wir stattdessen brauchen, hat Felix Prinz zu Löwenstein, Vorstand des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), auf den Punkt gebracht: »Wir brauchen nicht in erster Linie hoch produktive Produktionssysteme, sondern hoch stabile.« 11 Leider werden diejenigen, die aktuell schon ohne Pestizide und mit stabileren Systemen arbeiten, die Ökobauern, in ihrer Produktion häufig massiv beeinträchtigt, da abdriftende Pestizide ihre Ernten verkaufsunfähig machen. 12 Darüber hinaus ist es als einzelner Ökobetrieb innerhalb einer Gemarkung und umzingelt von intensiver konventioneller Landwirtschaft extrem schwierig, die Nützlinge und positiven Systemplayer zu fördern, die der Nachbar gerade totspritzt. Somit muss auch mit einem anderen politischen Mythos aufgeräumt werden: Eine wirkliche Koexistenz konventioneller und ökologischer Anbausysteme gibt es nicht – und wenn, dann zum Nachteil der Ökobauern.
Ausstieg aus der Pestizidfalle
Verbraucher wollen kein Gift auf dem Teller, dem Acker und in der Natur, denn Wasser und Boden werden geschädigt. Die Artenvielfalt wird zerstört. Landwirte tragen Gesundheitsschäden davon und unsere Nahrungsmittel sind belastet. 13 Wozu das alles?
Es ist deutlich effizienter, ökologisch verträglicher, für die Landwirte und Konsumenten gesünder sowie volkswirtschaftlich günstiger, widerstandsfähige (resiliente) Agrarsysteme anzuwenden und zu erforschen, statt für jede Unwägbarkeit und jeden Schädling einzeln eine chemische Keule zu entwickeln, die nicht einmal zielgenau wirkt und jede Menge Kollateralschäden verursacht, z. B. bei Bienen und anderen Insekten. 14 »Schutz von Pflanzen« mit Gift, auf Kosten anderer wichtiger Organismen im Ökosystem, ist auch aus ökonomischen Gründen Unsinn. Eine Verrechnung der angeblichen ökonomischen Vorteile der Neonikotinoidbeize mit ihren gesamten ökologischen Nachteilen kam 2016 zum Ergebnis, dass die Nachteile – auch ökonomisch betrachtet – eindeutig überwiegen. 15 Denn: Ohne Pestizide kann man hervorragend Nahrungsmittel erzeugen, aber ohne Bienen nicht! [...]
Anmerkungen
1 Stellvertretend: R. Diercks und R. Heitefuss: Integrierter Landbau. Systeme umweltbewußter Pflanzenproduktion. Grundlagen, Erfahrungen, Entwicklungen. 2. Auflage, Stuttgart 1994.
2 S. Möckel et al.: Einführung einer Abgabe auf Pflanzenschutzmittel in Deutschland. Berlin 2015
3 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2018 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 über Pflanzenschutzmittel. Brüssel 2018.
4 A. Beste: Vergiftet. Pestizide in Boden und Wasser – das Beispiel Glyphosat. In: Der kritische Agrarbericht 2017, S. 204–208.
5 Schlussfolgerungen der Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail (ANSES). Maisons-Alfort 2018.
6 S. Neubert: Pestizide? Wieso überhaupt? In: T. Brückmann et al.: Gift auf dem Acker? Innovativ geht anders! Ein Plädoyer für eine giftfreie Landwirtschaft. Eine Autorenstudie im Auftrag von Martin Häusling, MEP. Wiesbaden 2018, S. 18. (www.martin-haeusling. eu/images/Pestizide_WEB.pdf)
7 Friends of the Earth: »Walmart and true value to phase out bee killing pesticides while ace hardware lags behind«. Press release 3. May 2017.
8 Greenpeace: »Schon 311 österreichische Gemeinden verzichten auf Glyphosat«. Pressemitteilung vom 6. Juni 2017.
9 Vorwort von Martin Häusling in Brückmann et al.: Gift auf dem Acker? Innovativ geht anders! Ein Plädoyer für eine giftfreie Landwirtschaft. Eine Autorenstudie im Auftrag von Martin Häusling, MEP. Wiesbaden 2018.
10 Zwei Beispiele: Schleich-Saidfar: Wenn Herbizide gegen Fuchsschwanz versagen. In: top agrar 6/17 (2017). – B. Augustin: Die Wirkungsprobleme nehmen weiter zu. In: Landwirtschaftliches Wochenblatt 17/17 (2017).
11 F. Löwenstein: Agrarökologie sticht Agrarchemie – die Zukunft gehört stabilen Systemen. In: Brückmann Brückmann et al.: Gift auf dem Acker? Innovativ geht anders! Ein Plädoyer für eine giftfreie Landwirtschaft. Eine Autorenstudie im Auftrag von Martin Häusling, MEP. Wiesbaden 2018., S. 51.
12 J. G. Zaller: Unser täglich Gift. Pestizide – die unterschätzte Gefahr. München 2018. – Bioland: »Raus aus der Pestizid-Falle«. Resolution vom 25. November 2014.
13 PAN Germany: Krank durch Pestizide – was tun? Informationsblatt vom 23. August 2018.
14 M. Watts and S. Williamson: Replacing chemicals with biology: Phasing out hazardous pesticides with agroecology. Penang 2015.
15 Centre for Food Safety: Net loss: Economic efficacy and costs of neonicotinoid insecticides used as seed coatings: Updates from United States and Europe. Washington, D.C. 2016 (www. centreforfoodsafety.org).
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Version. Die Originalversion ist zuerst hier erschienen:
Häusling, M. 2019. Die Uhr tickt. Zunehmende Probleme beim Pestizideinsatz erfordern entschiedenes Umdenken. In: AgrarBündnis e.V. (Hrsg.): Der kritische Agrarbericht 2019. URL: https://www.martin-haeusling.eu/themen/bodenkonzentration-und-landgrabbing-2/2200-kritischer-agrarbericht-2019-schwerpunkt-europa-die-uhr-tickt.html