Astronaut Alexander Gerst vermeldete aus der Raumstation ISS, die Dürre sei selbst aus dem Weltall zu sehen. Klimaforscher kommentierten, Verursacher der Hitzewelle sei der schwache Jetstream, der kaum mehr Atlantik-Tiefs transportiert, weil es in der Arktis zu warm ist; solche hyperstabilen Extremwetterlagen würden in Zukunft zunehmen.
Hauptverantwortlich für die Erdüberhitzung ist die Agroindustrie: Pestizid- und Chemiedünger-Hersteller, Massentierhalter, Lebensmittelkonzerne, Landmaschinenbauer, Plantagenbesitzer und Herrscher der Mono- und Reinkulturen. Wenn man ihren Ausstoß von Treibhausgasen zusammenrechnet, macht das ungefähr die Hälfte aller Emissionen aus. Um nur einen Teil der von ihnen verursachten Schäden aufzuzählen: Pestizide, Kunstdünger und tiefes Pflügen töten Bodenleben und Artenvielfalt; der aus dem Humus freigesetzte Kohlenstoff oxidiert in der Luft zu CO₂. Schwere Maschinen verdichten den Boden, so dass Lachgas freigesetzt wird, dreihundert Mal klimaschädlicher als CO₂. Massentierhaltung erzeugt Methan, fünfundzwanzig Mal schlimmer als CO₂. Gülleverklappungen führen zu Nitrat im Grund- und Trinkwasser sowie zu immer größeren »Todeszonen« in den Meeren. Das »Institut für Welternährung« vermeldete im Juli, die US-Fleisch- und Milchkonzerne JBS, Tyson Foods, Cargill und Dairy Farmers hätten als Brandstifter am Weltklima inzwischen sogar die größten Ölkonzerne überholt.
In Europa gibt die »Gemeinsame Agrarpolitik« der EU vor, wie auf den Äckern zu wirtschaften ist. Ihr Grundproblem ist der Irrglaube, die Landwirtschaft müsse sich nach derselben Rationalisierungs-Logik entwickeln wie die Industrie. Die Brüsseler Subventionen machen gewollt Agroindustrielle noch größer, denn sie richten sich vor allem nach der Flächengröße eines Betriebs. Sogar Ackergift-Konzerne wie Bayer erhalten Riesensummen, weil auch sie Flächeneigentümer sind. Umgekehrt mussten schon Millionen von kleinen Höfen und Familienbetrieben aufgeben, weil nach dem Motto »Wachse oder weiche« nur die Größten und Fettesten überleben. Das führt zu immer höheren Betriebskonzentrationen mit spezialisierten Mono- und Reinkulturen. Immer weniger Menschen arbeiten mit immer mehr schwereren Maschinen auf immer öderen Äckern.
Die Lage erscheint hoffnungslos. Ist sie aber nicht! Politischer Willen vorausgesetzt, wäre es möglich, die Landwirtschaft vom Problemverursacher zum Problemlöser umzubauen: mittels »regenerativer Agrikultur«.
Pionierprojekte zeigen den Weg. Etwa Bec Hellouin in der französischen Normandie, gegründet von den Quereinsteigern Perrine und Charles Hervé-Gruyer. Der Permakulturhof mit seinen Gemüseinseln, Marktgärten, Gewächshäusern, Viechern und Waldgärten ist laut einer Studie der Pariser Universität zehnmal so produktiv wie ein konventioneller Betrieb. Zehnmal! Die auf nur 4500 Quadratmeter erzeugten Produkte versorgen das fünfzehnköpfige Team, eine Gemeinschaft der Solidarischen Landwirtschaft, den Hofladen und mehrere Feinschmecker-Restaurants in Paris. Und die Farm sieht aus, als ob die Natur die erfahrene Fürsorge mit Schönheit und Fülle zurückgeben wollte.
Solche individuelle Pflege von Pflanzen, Böden und Tieren entzieht sich der Rationalisierung und der marktwirtschaftlichen Verwertungslogik. Sie erfordert viel Beobachtung, Einsatz, Zuwendung, Verständnis, Fürsorge, Hingabe. Please handle with care! Patentlösungen für alle und alles verbieten sich. Für jeden Ort, jede Zeit, jeden Boden, jede Sorte, jede Pflanzenmischung muss eigens ausprobiert werden, was die je besten Bedingungen fürs Gedeihen sind. »Care« – also gelingendes Kümmern, Umsorgen, Pflegen – ist eine Resonanzbeziehung zwischen gleichwürdigen Subjekten und somit das genaue Gegenteil der lebensfeindlichen Agroindustrie, die heute als landwirtschaftlicher Standard gilt.
Doch wer kommt für die Kosten solch fürsorglicher Mehrarbeit auf? Ist sie überhaupt mit Geld aufzuwiegen oder liegt sie nicht vielmehr jenseits der kommerziellen Sphäre? Das Problem ist dasselbe wie bei menschlicher Care-Arbeit: Im marktwirtschaftlichen System wird Fürsorge weder anerkannt noch finanziell oder anderweitig gewürdigt. Dabei ist sie der viel wichtigere und umfangreichere Bereich, jener Eisberg an ungesehener Versorgungsarbeit, der die Spitze dessen, was man landläufig »Arbeit« nennt, erst ermöglicht: Kinder aufziehen, Alte pflegen, Freunde und Nachbarn unterstützen, ehrenamtliches Engagement – fast überall lastet sie auf den Frauen. Feministinnen haben deshalb 2014 die »Care-Revolution« ausgerufen: Sie fordern, dass der für eine Gesellschaft unersetzliche Wert von Sorgearbeit endlich anerkannt wird – etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen oder menschenwürdige Pflegeeinrichtungen. Menschen benötigen von Geburt an die Fürsorge anderer, denn ihr »Ich« kann nur entstehen durch ein Gegenüber. In Südafrika gibt es dafür den Begriff »Ubuntu«, der die wechselseitige Verbundenheit meint: Ich bin, weil wir sind.
Das lässt sich auf die Agrikultur übertragen: Wir sind, weil sie ist. Die Lebewesen, von denen wir uns ernähren, pfleglich zu behandeln und artgerecht aufzuziehen, mit dem Land als gleichwürdigem Gegenüber in Beziehung treten, seine Bedürfnisse erkennen – das ist »Agricare«. Konsequent angewendet geht dieser Ansatz weit über eine neue landwirtschaftliche Methode hinaus: Er ist Teil einer Kulturwende, einer kopernikanischen Wende im Mensch-Natur-Verhältnis westlicher Gesellschaften. »Solange wir nicht begreifen, was das Land ist, stehen wir im Widerspruch zu allem, was wir berühren«, schrieb Landwirt und Schriftsteller Wendell Berry. Eine solche tiefgreifende Landwende würde den himmelschreienden Widerspruch auflösen, dass wir den Grund und Boden, der uns nährt und erhält, als Ressource vernutzen. Stattdessen würden wir unser Verbundensein mit allem Lebendigen begreifen.
Menschen, die diese Einsicht verinnerlichen, könnten sich nicht mehr als Besitzer und Beherrscher der Erde gerieren, sondern würden sich als Hüterinnen und Hüter, als Pflegnutzende in der Gemeinschaft der Lebewesen des von ihnen bestellten Lands begreifen. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen: Wenn Land nicht mehr als vom Menschen getrennte Ressource verstanden wird, sondern als essenzieller Bestandteil der eigenen Existenz, kann es nicht länger als Spekulationsgut ausgebeutet werden. Es wird dann vielmehr zu einem mit Würde und Rechten begabten Gemeintum, einem Commons, einer Allmende.
Dieser Artikel ist zuerst hier erschienen:
Scheub, U. (2018). OYA :: Für eine Care-Revolution auf den Äckern. 13.09.2018. URL: https://oya-online.de/blog/305-/view.html
Die Langfassung dieses Artikels erscheint in der Druckausgabe von Oya #50.
Dieser Artikel steht unter folgender CC Lizenz: BY-NC-SA.