Das Gebot einer nachhaltigen Entwicklung ist in der Gegenwart größer denn je. Das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte hat die ökologische Problemlage verschärft, Wetterextreme und ökologische Degradation haben die Lebensqualität vieler Menschen in Entwicklungsländern verschlechtert. Und was die Lebensqualität in Industrieländern angeht, so hat sie sich zumindest nicht verbessert. Vernünftig dagegen ist eine Entwicklung, in der die Ökonomie dem humanitären Fortschritt und intakten Ökosystemen dient. Die ökologischen Dienstleistungen für die Menschheit – beispielsweise die Bereitstellung von sauberer Luft, fruchtbaren Böden und Trinkwasser, die Versorgung mit Nahrung, die Regulation des Klimas, Schutz vor Wetterextremen, die Entsorgung von Abfallstoffen, die genetische Vielfalt – sind zunehmend schlechter verfügbar.¹ Ein schrumpfender Energie- und Ressourcenverbrauch ist daher zwingend. Mit wenigen Veränderungen möglichst große ökologische Entlastungen zu erreichen bedeutet nun, an den Konsumpraktiken und -produkten mit der größten Umwelteinwirkung anzusetzen. Das ist die Strategie der effizienten Suffizienz. Soll es darum gehen, die Umwelt effektiv, in ein oder zwei Dekaden zu entlasten und damit eine notwendige Bedingung für eine nachhaltige Entwicklung zu realisieren, kommt man um sie, wenn überhaupt, nur schlecht herum. Die ökointensivsten Praktiken und Produkte sind: der Kauf und die Nutzung von Autos, der Verzehr tierischer Produkte, der Energieverbrauch zur Regulation der Raumtemperatur und das Bauen von Häusern. Am konsumbedingten Energie- und Ressourcenverbrauch, der wiederum den größten Anteil am gesamtgesellschaftlichen Verbrauch hält, haben sie einen Anteil von etwa 70 Prozent. Hier sollte Suffizienz walten. Beispielsweise lassen sich durch moderat suffiziente Verhaltensweisen im Wohnbereich, etwa die Reduktion von Waschgängen oder der Raumtemperatur, mehr Energie- und CO 2 -Einsparungen realisieren als durch die energieeffizienteste Gebäude- und Wohnausstattung.²
Die Kluft zwischen Wissen und Handeln
Prinzipiell ließen sich suffiziente Praktiken im Nu umsetzen. Niemand muss Fleisch essen (schon gar nicht täglich), um sich gesund zu ernähren; niemand muss ein Einfamilienhaus bauen, um gut zu wohnen; niemand ist ohne Auto immobil (sofern der öffentliche Verkehr gut organisiert ist); niemand muss Räume im Winter auf 23 Grad Celsius aufheizen, auch bei 18 Grad kühlt man nicht aus.
Welche Barrieren stehen der Suffizienz nun im Weg, und wie sind sie zu beseitigen? Die Logik sagt, dass die Kluft vom Nicht-Wissen zum Wissen geschlossen werden muss. Die Empirie sagt, dass danach die Kluft vom Wissen zum Handeln zu schließen ist. Und die Soziologie sagt, dass die erste Kluft nicht überbrückt werden muss, sofern die zweite geschlossen werden kann. Aber der Reihe nach:
Nur wer weiß, dass sein Handeln, beispielsweise routinierter Fleischkonsum, negative interne Effekte (Gesundheit) oder negative externe Effekte (Umwelt) verursacht, und dass respektive wie er anders handeln könnte, um sein Bedürfnis (Sättigung) zu befriedigen, wird sein Handeln zu reflektieren beginnen. Jedoch werden nur wenige von der Einsicht in die Notwendigkeit dazu motiviert, ihr eigenes Konsumverhalten zu ändern. Das hat fünf zusammenhängende Gründe, die zwischen Wissen und Handeln stehen.³
➯ Der erste Grund ist banal. Es geht um Kosten und Nutzen: Wer auf Fleisch verzichtet oder seinen Fleischkonsum einschränken möchte, wird mit Kosten konfrontiert. Man muss von Gewohnheiten ablassen, Anstrengungen in alternative Verhaltensweisen investieren, Geschmacksvorlieben opfern, in manchen Milieus und in großen Regionen um seinen Status (in Osteuropa als Mann, in Lateinamerika als Mensch) fürchten – und hat davon im Gegenzug keinen Nutzen. Letzteres liegt an der kausalen Distanz. Die Wirkungen des eigenen Verhaltens bleiben abstrakt, sie finden an anderen Orten und zu anderen Zeiten statt. Darum hört Klimaschutz bei der Bratwurst häufig schon auf.
In einer Gesellschaft, die bestimmten Produkten
ihren symbolischen Mehrwert aberkannt hat,
muss der suffizient Handelnde keine Angst
mehr haben, seinen sozialen Status zu gefährden.
➯ Der zweite Grund ist kultureller Natur. Verzicht und Einschränkung stehen für Askese, Rückschritt, Not und ein schlechtes Leben, wohingegen Steigerung und Mehr ein gutes Leben verheißen. Zudem sind ein eigenes Haus und Auto (je größer und teurer, das heißt je energie- und ressourcenintensiver) Status- oder Integrationssymbole geworden, wie Fleischspeisen haben sie eine positive symbolische Bedeutung und werden darum gewollt.
➯ Der dritte Grund ist menschlich. Menschen orientieren sich am Handeln anderer, woraus sich Konventionen ergeben, die das Handeln großer Gruppen leiten. Wie die US-amerikanische Psychologin Melanie Joy für den Fleischkonsum gezeigt hat, legitimieren sich Konventionen aus drei Adjektiven beginnend mit „n“: normal („man“ isst Fleisch), natürlich (Menschen haben dies schon immer getan) und notwendig (für eine gesunde Ernährungsweise).⁴ Das zweite „n“ gilt paradoxerweise auch für den Autoverkehr: Da jede(r) mit ihm aufgewachsen und eine Alternativerfahrung nicht bekannt ist, scheint individualisierte Automobilität – wie schnurgerade Gurken, Mode oder Strommasten – etwas Natürliches zu sein. Diese Quasinatürlichkeit ist das Resultat einer Shifting Baseline, einer sich verschiebenden Referenz, und eine
kaum hinterfragte Selbstverständlichkeit geworden.
➯ Menschen, das ist der vierte Grund, neigen einzeln oder als Gruppe dazu, ihre Verantwortung abzugeben. Unternehmen reichen sie an ihre Kund(inn)en weiter, Politiker(innen) an die Wähler(innen), Käuferschaft und Wahlvolk reichen sie mit dem Hinweis an Wirtschaft und Regierung weiter, dass man als Einzelne(r) nichts ändern könne. Unternehmen und politische Entscheidungsträger(innen) schieben sich den Ball gegenseitig zu.
➯ Der fünfte Grund ist systemisch bedingt. Die marktwirtschaftlich notwendige Einführung immer neuer Waren, Modelle und Optionen in allen Produktkategorien (und so auch in den nachhaltigkeitsrelevanten) erhöht die Unzufriedenheit mit dem, was man hat: Das eigene Auto wird psychologisch entwertet, sobald ein neues Modell auf dem Markt ist, das besser als das alte zu sein verspricht. Der Verzicht, ein neues zu kaufen, schürt dann die Befürchtung, nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein, etwas zu verpassen.
Der Zeitgeist hat es in der Hand
Lässt sich daraus eine Strategie zur Institutionalisierung suffizienter Praktiken ableiten? Hier kommt die Soziologie ins Spiel, die sich mit dem Außengeleitetsein des Menschen befasst. Alle Barrieren lassen sich auf einmal überwinden, so es gelingt, die symbolische Bedeutung eines Produkts oder einer Praktik zu wandeln. Gilt es nicht mehr als richtig oder gut, Fleisch zu verzehren, wird es kulturell unattraktiv und – unabhängig vom individuellen Umweltbewusstsein – nicht mehr gewollt. Dazu ist es unter anderem erforderlich, die drei N-Adjektive zu problematisieren und die Reputation der jeweiligen Produkte und ihrer Alternativen zu adressieren. Erfolgt beides über mehrere Jahre, verändert sich der Zeitgeist.
Der Wandel einer kollektiven Einstellung zu einem Produkt oder einer Handlung setzt einen Triumph der Theorie und einen Triumph der Praxis voraus: Neue Erkenntnisse sind notwendig für den ersten Schritt. Mit ihrer Mikrobentheorie veränderten beispielsweise die Chemiker Louis Pasteur und Robert Koch ab den 1850er-Jahren die kollektive Deutung von Krankheiten (die zuvor oft als Geißel Gottes galten)
grundlegend. Expert(inn)en wie sie gehören einer Deutungselite an, die meist derUrsprung neuer Sichtweisen ist.
Neue Sichtweisen setzen sich aber nie von selbst durch und sind für praktische Transformationen ergo unzureichend. Sie benötigen Anhänger(innen), vor allem Akteure, die sie in die Mitte der Gesellschaft einbringen. Diese Vermittlungselite formiert sich aus medialen Akteur(inn)en, die umso einflussreicher sind, je besser ihre Reputation (qualitativer Einfluss) und je größer die Zahl ihrer Rezipient(inn)en (quantitativer Einfluss) ist. Besteht Konsens bei der Deutungs- und Vermittlungselite, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Individuen die neue Einstellung akzeptieren. Voraussetzung dafür ist, dass sie die kursierenden Argumente wahrnehmen, verstehen und erinnern, was wiederum umso wahrscheinlicher ist, je intensiver und länger diese (in den Medien) thematisiert werden. Ein solcher Konsens tritt als vorherrschende öffentliche Meinung auf und begünstigt individuelle Verhaltensänderungen, wie Studien zum sozialen Einfluss von Mehrheiten gezeigt haben.
In der Praxis ist jener Konsens zunächst aber nicht die Regel. Opponent(inn)en insistieren auf hergebrachte oder alternative Deutungen: Gegen die im Anschluss an Pasteur und Koch entwickelten Impfstoffe musste erst der Einfluss zahlreicher Impfgegner geschwächt werden, damit Regierungen auf eine breite Akzeptanz für die Durchsetzung der Impfpflicht stießen. Politische Entscheidungsträger(innen) treten am Ende des Prozesses auf und schaffen institutionelle Voraussetzungen im Sinne der neuen öffentlichen Meinung.
Vegane Kochbücher werden Bestseller
Seit einigen Jahren kursiert in westlichen Gesellschaften, vor allem in Deutschland, eine Diskussion über den Fleischkonsum, angestoßen durch Skandale und eine neue Sicht von Expert(inn)en zur Viehwirtschaft. Kritisiert wird deren Beitrag zum Klimawandel, zur Verknappung von Lebensmitteln sowie die Unmoral der Massentierhaltung und -tötung. Zeitungen und Medienschaffende problematisieren Fleischindustrie und -konsum, deren symbolische Bedeutung verschlechtert sich. Das Resultat der vergangenen Jahre: Vegane Kochbücher wurden Bestseller, die Anzahl der Vegetarier(innen) hat sich hierzulande binnen sieben Jahre verdoppelt.⁵ Nimmt der öffentliche Druck sachlicher wie moralischer Argumente zu, bleibt der Einfluss von
Dissens streuenden Fürsprecher(inne)n des Fleischverzehrs gering, wächst die Zahl der Vegetarier(innen) weiter, reagieren politische Entscheidungsträger(innen) vermehrt beispielsweise mit Veggiedays in öffentlichen Kantinen oder der Ausgrenzung von Fleischgerichten bei Sportveranstaltungen.
Ein solcher Wandel wirkt dem sogenannten Suffizienz-Rebound entgegen. Dieser bedeutet: Sinken die Preise für bestimmte Produkte, werden sie nur noch in vermindertem Umfang nachgefragt. Nun erhöht sich ihre Attraktivität für jene, die sie zwar gern konsumieren würden, es sich bislang aber nicht leisten konnten – so wird der erzielte Einsparerfolg kompensiert.⁶ Hat sich aber ein Deutungswandel vollzogen, ist der Kauf jener Produkte anstößig. In einer Gesellschaft, die bestimmten Konsumprodukten ihren symbolischen Mehrwert aberkannt hat, muss der einzelne suffizient handelnde Mensch keine Angst mehr haben, dadurch etwas zu versäumen oder seinen sozialen Status zu gefährden.
Anmerkungen:
¹ Millennium Ecosystem Assessment (2005): Ecosystems and Human Well-Being. Washington D.C.
² Pfäffli, Katrin (2012): Suffizienzpfad Energie. Zürich.
³ Stengel, Oliver (2011): Suffizienz. München.
⁴ Joy, Melanie (2010): Why We Love Dogs, Eat Pigs and Wear Cows. San Francisco.
⁵ Cordts, Anette et al.: Fleischkonsum in Deutschland. In: FleischWirtschaft 7/2013.
⁶ Alcott, Blake: The Sufficiency Strategy. In: Ecological Economics 6/2007.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in:
politische ökologie (Bd. 135): "Vom rechten Maß. Suffizienz als Schlüssel zu mehr Lebensglück und Umweltschutz“, oekom verlag, München 2013, S. 86-91.