Wie Überfluss entsteht
In Diskussionen über Lebensmittelverschwendung werden allzu oft zuerst die Verbraucher in die Pflicht genommen. Die Zahlen sprechen für sich: Über die Hälfte der Verluste trete in den Haushalten auf. Genauer betrachtet, ist die Antwort jedoch nicht ganz so simpel, denn die Gesamtrechnung basiert auf Überfluss.
Die aktuelle Wirtschaftslogik schlägt sich in der europäischen und deutschen Gesetzgebung nieder. Sie passt die landwirtschaftliche Produktion der absoluten Freiheit des Marktes an, fördert Überproduktion und pickt sich, um die Preise stabil zu halten, schließlich die „Rosinen“, also normgerechte Waren, heraus, die als permanent bereitgehaltenes Überangebot zu Tiefstpreisen im Warenkorb der Verbraucher landen.
Stark vereinfacht stellt sich die jetzige Situation so dar: Ein Großteil der KonsumentInnen sieht aufgrund des hohen Angebots und der niedrigen Preise keine direkte Notwendigkeit des effizienten Verwertens von Lebensmitteln, während gleichzeitig ProduzentInnen im Sinne der „Wachsen-oder-Weichen“-Maxime einer europäischen Agrarpolitik agieren müssen. Sinkende Kilopreise landwirtschaftlicher Erzeugnisse aufgrund eines hohen Angebots lassen die Investitionszuschüsse, z.B. für Stallerweiterungen zunächst attraktiv erscheinen. Das Hamsterrad aus Krediten für größere Anlagen und Betriebe sowie höhere Erträge führt jedoch nicht zwingend zu höheren Gewinnen. Vielmehr ermöglichen es Zuschüsse und flächenbasierte Subventionen, noch günstigere Massenware zu produzieren - auf Kosten von Umwelt und Qualität. Nicht minder beteiligt am Dilemma sind Verarbeitung und Handel, deren Produktions- und Distributionssysteme auf normierte und ständig verfügbare Waren ausgerichtet sind.
Welche Sektoren - welche Verluste ?
Laut WWF werden in Deutschland pro Sekunde 313 Kilo genießbare Nahrungsmittel grundlos entsorgt, weltweit ist ein Drittel aller Nahrungsmittel betroffen1. Je nach Erhebung schwankt der Anteil der Verluste auf Haushaltsebene in Deutschland zwischen 20 und 61 % 2.
Weitere Verluste verteilen sich nach einer Studie von Kranert et al. (2012) mit jeweils 17 % zu gleichen Teilen auf Großverbraucher und Industrie und betreffen lediglich zu 5 % den Handel3. Da keine allgemeingültigen Daten- und Berechnungsgrundlagen existieren, sind diese Zahlen mit hoher Unsicherheit behaftet (ebd.). Vorgelagerte Verluste aus der Landwirtschaft, die unter anderem aufgrund von Qualitätsansprüchen der Handelsnormen entstehen, sind hier noch nicht berücksichtigt. Verluste bei der Ernte belaufen sich im Mittel auf ein bis drei Prozent (vgl. WWF Deutschland 2015) – schwerer wiegt die Aussortierung aufgrund von gesetzlichen Normvorgaben:
Obwohl seit 2009 in der EU die Gültigkeit spezieller Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse von 36 auf 10 Arten reduziert wurde, gehen Schätzungen zufolge in Europa weiterhin ca. 20 Prozent, je nach Art sogar bis zu 50 Prozent, der Ernte aufgrund ästhetischer Standards verloren. So geben Handelsnormen u.a. die Form, Färbung oder Größe für einzelne Lebensmittel vor - unzureichende Ware bleibt auf der Strecke4. Einerseits könnten Supermarktbetreibende hier grundlegend anders entscheiden, andererseits befürchten sie bei Absenkung der Standards eine Abwanderung ihrer Kunden zur Konkurrenz. Denn die Kundschaft hat sich an makellose Ware gewöhnt5.
Im Handel sind zudem häufig Großpackungen vom Aussortieren betroffen, die, sobald sie ein ungenießbares Produkt enthalten, gänzlich entsorgt werden. Am Beispiel von Tomaten konnte von Jepsen et al. (2014) gezeigt werden, dass das Müllaufkommen für verpackte Tomaten nahezu die 10-fache Wegwerfquote im Vergleich zur unverpackten Ware aufweist1.
Fokus Europäische Agrarpolitik
Europas Landwirtschaft wird maßgeblich von der „Gemeinsamen Agrarpolitik“ (GAP) geprägt. Diese macht aktuell mit 38% den größten Posten des EU-Budgets aus und wird unter Leitung des jeweiligen Agrarkommissars in 7-Jahreszyklen neu verhandelt. Aktuell werden die letzten Absprachen vor dem Inkrafttreten der GAP ab 2021 getroffen.
Wie es zur gemeinsamen Agrarpolitik kam
Zum Verständnis der Hintergründe ist die historische Entstehung der Gemeinsamen Agrarpolitik zu rekapitulieren: 1957 mit den Römischen Verträgen etabliert, bestehen ihre Ziele laut dem Vertrag von Lissabon in der Produktivitätssteigerung, der Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen, der Marktstabilisierung und der Versorgungssicherheit zu angemessenen Preisen für die Verbraucher[6]. Diese Grundsätze sind in einem Nachkriegseuropa mit instabiler Versorgungslage entstanden und bedürften heute, in Anbetracht eines übermäßigen Ressourcenverbrauchs bei gleichzeitiger Überschussproduktion, einer Anpassung.
Strukturelle Folgen
Die strukturellen Folgen der seit den 1960er Jahren anhaltenden, umfassenden Produktivitätsförderung sind bis heute zu spüren: Flurbereinigungen, also die Beseitigung arbeitsintensiver, aber biodiversitätsfördender kleinräumiger Ackerstrukturen und fatale Abhängigkeiten zwischen der Anwendung von Pestiziden, Düngemitteln und Monokulturen haben sich etabliert. Auch pervertierte Tierhaltungsformen, die das Tier, z.B. durch Schwanz- und Schnabelkupieren der günstigsten Haltungsform anpassen, lassen sich auf das ursprüngliche Credo der Gemeinsamen Agrarpolitik zurückführen.
Viele Bauernhöfe fielen der Maxime „Wachsen oder Weichen“ zum Opfer, denn am Markt behaupten konnten sich trotz der Garantiepreise im Zuge des europäischen Protektionismus (Zölle auf außereuropäische Waren) nur diejenigen, die günstig und viel produzierten. Damit wurde intensive Produktion, basierend auf dem Einsatz fossiler Energie in der Agrartechnologie, sowie in der Herstellung von Pestiziden und Düngern sowie dem Austausch heimischer Futtermittel gegen Soja-Kraftfutter aus Übersee, zum Standard. So haben sich seit 1950 europaweit die Erträge verdoppelt und die Milchleistungen verdreifacht7, während die jährliche Nachfrage im Mittel nur um ein halbes Prozent zunahm7.
Da auch der Handel sich professionalisierte, führte das Produktivitätsdogma zu exklusiven Güteklassen und Vermarktungsnormen – ohne Platz für natürliche Abweichungen oder ursprüngliche, weniger produktive Sorten6.
Weltmarkt als Ventil
Als Antwort auf diese Fehlentwicklung wurde nicht etwa extensiveres Wirtschaften angestrebt, sondern die Überschüsse auf dem Weltmarkt entladen. Die dafür seit den 1970er Jahren ausgezahlten Exportsubventionen garantierten die Auszahlung der Differenz zwischen günstigerem Weltmarktpreis und teurerem EU-Preis. 2009 beispielsweise wurden durch das deutsche Zollamt allein für deutsche Exporte über 50 Millionen Euro Ausfuhrerstattungen ausgezahlt. Der Einfluss auf lokale Märkte, insbesondere von Entwicklungsländern liegt auf der Hand.
Nach der offiziellen Beendigung der Exportsubventionen im Jahr 2014 kritisieren Nichtregierungsorganisation die Doppelzüngigkeit der EU-Kommission: Die aus den flächengebundenen Direktzahlungen resultierenden Überschüsse, die zudem unter dem Preis der tatsächlichen Produktionskosten (also ohne eine Entschädigung für Bodenerosion, Trinkwasserbelastung oder Biodiversitätsverlust) angeboten werden, enden weiterhin als Exporte, die lokale Erzeugnisse in Drittstaaten preislich unterbieten. Dies wird auch ermöglicht, weil in Deutschland Tierrechts- und Umweltstandards (wie die EU-Nitratrichtlinie) missachtet werden. Im Vergleich zu Zeiten der Exportsubventionen in den 1980er Jahren hat sich die heutige Warenausfuhr sogar ohne spezifische Subventionen vervielfacht. So hat sich bei Weizen und Milch der Anteil der Exporte an der Erzeugung verdoppelt, bei Schweinefleisch sogar fast vervierfacht7.
Ein Viertel der EU-Weizen- und Mehlexporte geht nach Afrika südlich der Sahara, wo sie mit lokal angepassten Nahrungspflanzen wie Hirse, Cassava und Yams konkurrieren8.
Ein weiteres Beispiel für entsprechende Negativfolgen ist die Schieflage des Milchsektors in Westafrika: Seit 2015 besteht auf dem europäischen Milchmarkt in Folge der umstrittenen Abschaffung der Milchquote Überproduktion und massiver Preisverfall. Die EU steuert gegen, indem sie das Milchpulver aufkauft, die Lagerung subventioniert und es dann zu Billigpreisen nach Westafrika ausführt. In Burkina Faso wird das EU-Milchpulver für ein Drittel des Lokalpreises verkauft, sodass Existenzen zahlreicher Milchbauern bedroht werden und weitreichende Abhängigkeiten von genau diesen fehlgeleiteten Exporten entstehen9.
Billiger bietet mehr – Verdrängung lokaler Produzenten durch globale Importe – auch in Europa
Die Regeln des Welthandels ermöglichen nicht nur die großangelegte „Verklappung“ überflüssiger Produkte außerhalb Europas – sie erleichtern genauso den Import von saisonbedingten Angeboten aus Drittländern, die dann in Konkurrenz zur europäischen Herstellung stehen. Am Beispiel von ägyptischen Frühkartoffeln, die vor europäischen Kartoffeln erntereif werden und günstiger zu haben sind, wird deutlich, dass die mit den Importen einhergehende geringere Nachfrage nach lokalen Kartoffeln zum Nachteil der europäischen Bauern geschieht. Für sie lohnt es sich je nach Marktlage gar nicht erst ihre Knollen aus dem Boden zu holen, da die Erntekosten bei der Gemüseproduktion bis zu 60 Prozent der Gesamtproduktionskosten darstellen.
Noch eine Spur härter träfe es Landwirte mit dem kürzlich verabschiedeten Mercosur-Abkommen, das noch seiner Ratifizierung harrt. Durch brasilianische Fleischimporte würden nicht nur korrupte und umweltzerstörende Systeme in Übersee unterstützt, es würden auch bäuerliche Existenzen in Europa bedroht. Der entstehende Überschuss an Rindfleisch würde auch nach Sicht des Deutschen Bauernverbands nicht ohne Verluste, ganzer Familienbetriebe10 oder billiger Fleischmassen, auszugleichen sein.
Die GAP ist nicht zukunftsfähig
Laut einer 2017 in Auftrag11 gegebenen Studie12 verfehlt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU ihre Ziele in allen Bereichen der Nachhaltigkeit. Zwar werden die Erfolge der GAP hinsichtlich der Existenzsicherung europäischer Landwirte gelobt, aufgrund der sozioökonomischen Effekte werden jedoch reihenweise Widersprüche aufgezeigt. So gilt bei den Direktzahlungen weiterhin: je größer die Betriebsfläche, desto mehr Zahlungen. Darüber hinaus würden die Subventionen durch rasant steigende Pachtpreise gerade bei kleineren Betrieben direkt an die Verpächter weitergereicht. Die Abhängigkeit von Subventionen beeinflusse Produktionsentscheidungen und verringere die Effizienz. Eine Zielstellung für die Direktzahlungen sowie eine statistische Grundlage über die wirtschaftliche Situation landwirtschaftlicher Haushalte fehle. Das Bedürfnis der Europäer nach hochqualitativen Lebensmitteln könne mit den Anreizen zur Billigproduktion nicht erfüllt werden. Der Exportfokus der GAP habe zwar zu mehr Handel mit Ländern mit hohen und mittleren Einkommen geführt, falle aber oft zum Nachteil der am wenigsten entwickelten Länder der Welt aus. Somit untergrabe die GAP neben vielen UN-Zielen für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs - u.a. ‚Gesundheit und Wohlbefinden‘, ‚Sauberes Wasser‘, ‚Weniger Ungleichheiten‘, ‚Nachhaltige/r Konsum und Produktion‘, ‚Maßnahmen zum Klimaschutz‘ und ‚Keine Armut‘) teilweise die EU-Ziele in der Entwicklungszusammenarbeit.
Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen
Nichtregierungsorganisationen fordern seit langem ein Umdenken: Die europäische Landwirtschaft sei erst dann international und ressourcenbezogen verträglich, wenn die derzeit für Flächenprämien verwendeten Milliarden in den Umbau zu einer ökologisch- und klimaverträglichen Landwirtschaft mit einer artgerechten Tierhaltung fließen. Der Exportfokus sollte zu Gunsten regionaler und nachfragegerechter Konzepte mit intelligenten Distributionssystemen abgeschafft werden8.
Nur die Norm zählt: Vermarktungsnormen und Handelsklassengesetz
Ein anderer Aspekt des verlustreichen Überproduzierens beginnt beim Weg in den Einzelhandel: Zum einen bestimmen europäische Vermarktungsnormen Entwicklungsgrad, Farbe und Form der Lebensmittel, zum anderen nimmt das deutsche Handelklassengesetz Einfluss. Dieses Gesetz teilt Obst und Gemüse in die Klassen Extra, I und II ein und unterscheidet damit verschiedene Abstufungen von Perfektion. Während Produkte der Klasse Extra einheitlich und frei von jeglichen Fehlern zu sein haben (meist für Spargel, Pfirsiche und Äpfel verwendet), sind in Klasse I bereits leichte Form- und Farbfehler zulässig. Größere Abweichungen von Farbe und Form sowie Quetschungen sind in Klasse II zulässig, die häufig auch für Bioprodukte Verwendung findet.
Generell müssen alle in der EU gehandelten Obst- und Gemüsearten den Kriterien ganz, fest, gesund, ohne Schädlinge oder Schäden, trocken, reif und sauber genügen und dürfen Rückstände an Pflanzenschutzmitteln nur in unbedenklichem Maß aufweisen (allgemeine Vermarktungsnorm). Dem Einzelhandel wird dazu explizit verboten, nicht normkonformes Obst oder Gemüse im Verkaufsraum anzubieten13.
2009 wurde ein Großteil der Regelungen der EU-Vermarktungsnormen im Rahmen der Novellierung abgeschafft. Heute sind nur noch zehn von den ursprünglich 36 speziellen, also auf bestimmte Arten zugeschnittene, EU-Vermarktungsnormen für die bedeutendsten gehandelten Obst- und Gemüsearten in Kraft. Darunter fallen die Obstarten Apfel, Birne, Zitrusfrüchte, Kiwi, Pfirsich/ Nektarine, Erdbeere und Traube und die Gemüsearten Salat, Gemüsepaprika und Tomate.
Während nun nach den EU-Normen keine Größensortierungen mehr vorzunehmen sind, wird als Mindeststandard auf die internationalen UNECE-Normen verwiesen (erstellt durch die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen), die weiterhin eine Einteilung nach Klassen ermöglichen. Im Handel hat der Wegfall der staatlichen Regelung lediglich hervorgerufen, dass neben der UNECE-Norm eigene Vorgaben entwickelt werden, die wenig am Aussortieren ändern 14.
Neben der Garantie von Mindestqualitätsstandards und gesundheitsrelevanter Kontrolle lassen die Vermarktungsnormen Raum zur Kritik15. Die Verquickung widersprüchlicher Interessen in den Instrumenten der Lebensmittelüberwachung wird von WissenschaftlerInnen des Max-Rubner-Instituts bemängelt: Als Marktaufsicht und- regulierung entwickelt, sollen die Rechtsnormen zusätzlich als Gesundheitsgarant fungieren und gleichzeitig Hilfestellung bei der Erschließung von Wachstumsmärkten bieten 16. So offenbart der Umstand, dass bei optischen Mängeln nicht mit Gesundheitsrelevanz, sondern mit Transparenz zur Vergleichbarkeit am Markt argumentiert wird, eine Schwachstelle auf dem Weg zum verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln.
In den speziellen Vermarktungsnormen sind minutiös tolerierbare und unzulässige Merkmale, vor allem von Obst und Gemüse festgehalten - ausgenommen sind Produkte, die zur Verarbeitung oder Tiernahrungserzeugung bestimmt sind.
Unter anderem wird die „Berostung“ von Äpfeln, eine harmlose Verhärtung der Fruchthaut durch kleine Verletzungen oder klimatische Einwirkungen, reglementiert. Dabei sind Ausnahmen bei ungünstigem Witterungsverlauf, z.B. durch späten Frost explizit nicht möglich – zu Gunsten des Wettbewerbs und zum Nachteil der Obstbauern.
So können regionaltypische Sorten häufig nicht die vorgeschriebenen Güteeigenschaften einhalten, sodass die Auswahl an wettbewerbsfähigen Sorten immer geringer wird. Als Folge nimmt auch der für Krankheitsresistenzen nötige Genpool ab – chemische Eingriffe gegen Pflanzenkrankheiten bleiben die Regel.
Im Rahmen der Möglichkeiten – Handelsklasse II als Vermarktungsgag
Optische Mängel wie Flecken, Risse oder Verformungen sind zu gewissen Prozentsätzen zulässig, allerdings wird das betroffene Obst oder Gemüse dann in Handelsklasse II kategorisiert. Wo aber lässt sich diese Ware kaufen? Die meisten Supermärkte setzen aufgrund des vorauseilenden Qualitätsanspruchs ihrer Kunden noch immer durchweg auf die optische Qualität der Handelsklasse I. Eine Möglichkeit die speziellen Vermarktungsnormen, insbesondere für Äpfel und Birnen, zu umgehen, ergibt sich durch die Kennzeichnung „zur Verarbeitung bestimmt“. Unter diesem Zusatz kann B-Ware im Handel angeboten werden, die so nur den allgemeinen Vermarktungsnormen entsprechen muss.
Edeka, Netto und REWE Österreich versuchten die Verbraucher in der Vergangenheit in Pilotprojekten an weniger perfekte Produkte der Handelsklasse II zur gewöhnen – zur Regel geworden ist diese Praxis aber noch nicht. Da es zum Bio-Image passt, hat der Discounter Penny seit 2016 Bio-Gemüse und Obst mit ungewöhnlichen Eigenschaften im Angebot, zum selben Preis wie die nach Klasse I genormte Ware. Penny bewirbt diese explizit als „echte Bio-Helden, die auch mal Macken haben dürfen“ 17.
Krummes Gemüse kaufen - Symptombekämpfung oder Ausweg?
Immer mehr Menschen haben Lebensmittelverschwendung satt. In einem gesellschaftlichen Klima das zunehmend kritisch gegenüber unserer Überflussgesellschaft wird, entwickeln sich Geschäftsmodelle, die sich eine andere Verteilung auf die Fahnen schreiben. So gibt es bereits Läden, die die ungeerntete Ware direkt vom Feld abholen und weitergeben (z.B. „The good Food“ für Einzelabnehmer und „Querfeld“ für Großverbraucher). Darüber hinaus entstehen Start-ups, die das aussortierte Gemüse weiterveredeln um es z.B. als Dörrware („Dörrwerk“) oder Chutney („Unverschwendet“ aus Österreich) anzubieten. Um das Wegwerfen nach dem Aussortieren im Einzelhandel zu verhindern, werden ebenfalls junge Unternehmen aktiv (z.B „SirPlus“). Auch ehrenamtlich basierte Lösungen des Teilens vom Überfluss, unter anderem durch „Foodsharing“ und „Die Tafel e.V.“, sind mittlerweile gesellschaftlich anerkannt - fast laufen sie Gefahr als Teil der sozialen Sicherung betrachtet zu werden.
All diese Bemühungen sind unterstützenswert und richtig – dennoch wird ein Handeln, national wie international, auch auf politischer Ebene erforderlich sein, um die komplexe Verschwendungskaskade an den Wurzeln zu verändern.
Wer nicht warten will, bis sich die Mühlen irgendwann anders drehen, kann schon heute im Kleinen gegensteuern:
Bezüglich des eigenen Konsumverhaltens sind Wochenmärkte und Ab-Hof-Verkaufsstellen eine Alternative zum Supermarkt. Eigene Behältnisse und Beutel verhindern Müll und vorzeitiges Schimmeln in überdimensionierten Großpackungen.
Auch im Restaurant kann man sich angewöhnen, Reste später weiterzuverwenden. Sprecht eurer Lieblingsrestaurant doch mal auf die „Beste-Rest-Box“ LINK an.
Regionale Produkte, die umweltverträglich und fair produziert werden, bekommst du indem du deine lokale Solidarische Landwirtschaft unterstützt. Hier kannst du gegen einen solidarischen Beitrag einen Ernteanteil aus deinem Umkreis beziehen und Einblicke in die Erzeugung deines Gemüses und, je nach Produktpalette, auch deiner Milch- und Fleischprodukte bekommen. Im Gegenzug ist der entsprechende Landwirt durch deinen Beitrag abgesichert gegen Wachstumszwang und auch das Risiko, dass eine Ernte mal nicht überwältigend ausfällt, ist einkalkuliert. Das unpersönliche und mit diversen Marktmechanismen verknüpfte Einkaufen kann hier gegen ein solidarisches Miteinander, bei dem auch das Mithelfen auf dem Feld von Zeit zu Zeit gefragt ist, getauscht werden.
Nicht zu vergessen ist auch die richtige Lagerung der Lebensmittel zu Hause – mit oder ohne Kühlschrank.
Für den schmaleren Geldbeutel ist die Umverteilung des Überflusses, wie sie von diversen regionalen Foodsharing-Gruppen organisiert wird, eine willkommene Option. Auch hier steht neben der Lebensmittelrettung häufig das gemeinsame Handeln, verbunden mit dem Austausch über die besten Reste-Rezepte im Mittelpunkt.
Als wichtiger Unterschied zu den gemeinnützigen Tafeln ist zu nennen, dass Foodsharing abgelaufene Ware von Partnerunternehmen, wie Bäckereien, Cafés, Märkten und Supermärkten erhält, während die Tafel meist Lebensmittelspenden aus dem konventionellen Einzelhandel bekommt, bei denen das MHD noch nicht abgelaufen sein darf. Die Spenden der Tafeln sind für diejenigen zugänglich, die staatliche Leistungen erhalten, Unterstützer_Innen sind jedoch herzlich willkommen. Foodsharing hingegen ist eine Freiwilligenorganisation und hinsichtlich Organisation und Lebensmittelverteilung für alle Interessierten offen.
Die Option, dein Gemüse selber zu ziehen, kostet dich vor allem Geduld und Ausdauer. Um dabei gemeinsam Spaß zu haben, kannst du dich einer Urban Gardening Initiative (https://www.urbaneoasen.de/projekte/ https://gruenanteil.net https://anstiftung.de/urbane-gaerten/gaerten-im-ueberblick?view=map) in deinem Umfeld anschließen.
Zum Thema Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist generell zu beachten, dass sich dies vor allem auf die garantierten äußeren Merkmale (wie Konsistenz oder Farbe) einer Speise bezieht, jedoch nicht bedeutet, dass die Lebensmittel mit dem Ablauf direkt ungenießbar werden. Hier sollte man sich auf seine Sinne verlassen und lediglich das Verbrauchsdatum, dass insbesondere für Fleisch- und Fischwaren gilt, ernstnehmen.
Die Grundlage all dieser Handlungsoptionen ist die Wertschätzung von Lebensmitteln. Viele Initiativen (Zu gut für die Tonne, Lebensmittel wertschätzen) haben sich zum Ziel gesetzt, spielerisch und kreativ neue Perspektiven auf unser täglich Essen zu entwickeln. Warum also nicht einmal im Umfeld, in der Kita, Schule, Unimensa oder Betriebskantine anregen, sich von diesen Initiativen inspirieren zu lassen?
Hilfreiche Instrumente wie der Küchenmonitor können ökologische wie ökonomische Verluste eindämmen.
Haben wir etwas vergessen? Schreibt uns Eure Ideen zur Umverteilung des Lebensmittelüberflusses via Mail oder direkt in die Kommentare!
Quellen
1 WWF Deutschland (2015): Das große Wegschmeißen, Berlin 2015.
3 Kranert et al. (2012): Ermittlung der weggeworfenen Lebensmittelmengen und Vorschläge zur Verminderung der Wegwerfrate bei Lebensmitteln in Deutschland. Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte-und Abfallwirtschaft.
4 F. Runge; H. Lang (2016): Lebensmittelverluste in der Landwirtschaft durch Ästhetik-Ansprüche an Obst und Gemüse – Gründe, Ausmaß und Verbleib. Berichte über Landwirtschaft, Zeitschrift für Agrarpolitik Landwirtschaft Bd. 94, Heft 3. Hrsg. durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, S. 6-7.
5 Frieling, V. Stricks, M. Wildenberg, F. Schneider (2013): The beauty and the beast – How quality management criteria at supermarkets create food waste. Conference paper, 6th International Conference on Life Cycle Management, Gothen-burg, S. 3.
6 Euronatur (2011): https://www.euronatur.org/fileadmin/migration/uploads/media/EuroNatur_Spezial_1-2011_Historie_europ._Agrarpolitik_02.pdf, zuletzt abgerufen am 15.09.2019
7 Reichert, T. (2019): „Keine Probleme mehr?“ , Kritischer Agrarbericht, AbL-Verlag (https://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2019/KAB2019_111_114_Reichert.pdf), zuletzt abgerufen am 15.09.2019
8 Reichert, T. und Thomsen, B. (2018): „Auswirkungen der EU-Agrarpolitik im Globalen Süden“, https://www.germanwatch.org/de/15918, zuletzt abgerufen am 15.09.2019
10 https://mobil.bauernverband.de/mercosur-abkommen-konterkariert-nachhaltigkeitsziele
11 Im Auftrag der europäischen Fraktionen der Grünen/EFA- und der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im Europaparlament sowie den Verbänden Birdlife Europe und European Environmental Bureau
12 Pe’er et al. (2017): „Is the CAP Fit for purpose? An evidence-based, rapid Fitness-Check assessment - Preliminary Summary of key outcomes“. Leipzig, June 2017: BirdLife, EEB, NABU, iDiv, UFZ, Uni. Göttingen.
13 76 Abs. 3 der VO (EU) Nr. 1308/2013
14 https://www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuv/landwirtschaft/Frieling_2017-02_ErgebnisseInterviews.pdf
15 Agrarmärkte Jahresheft 2009, Bayrische Landesanstalt für Landwirtschaft
16 https://frl.publisso.de/resource/frl:4698475-1/data/frl:4698475-1/data
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