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Verfasst von Lydia Kitz, Helen Engelhardt, Clara Menke
Letzte Aktualisierung: 05.06.2023
Ungleichheit ist ein weites Feld, das je nach Definition zahlreiche Aspekte umfasst, die einen mehr oder weniger starken Einfluss auf den Zugang der Bevölkerung zu nachhaltiger und damit auch gesunder Ernährung haben sowie auf die Umsetzung von Nischeninnovationen und auf weitere Aspekte der Transformation der Ernährungssysteme. Materielle Ernährungsarmut bezieht sich auf den Zustand, in dem Menschen aufgrund mangelnder finanzieller Mittel nicht in der Lage sind, eine ausgewogene Ernährung aufrechtzuerhalten. In vielen Fällen sind Menschen gezwungen, sich von minderwertigen Lebensmitteln zu ernähren (vgl. Feichtinger, 1996: 8), die oft reich an Kalorien, aber arm an Nährstoffen sind. Dies kann zu Mangelernährung führen, die wiederum das Risiko von Krankheiten und Todesfällen erhöht.
Hunger is caused by poverty and inequality, not scarcity.
Darüber hinaus erlaubt es die soziale Ernährungsarmut nicht, “in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise soziale Beziehungen aufzubauen, Rollen und Funktionen zu übernehmen, Rechte und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen oder Sitten und Gebräuche einzuhalten, die jeweils im sozialen und kulturellen Umgang mit Essen in einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen” (Feichtinger, 1996: 8).
Offensichtlich ist es zunächst die finanzielle Ungleichheit, die u. a. einen elementaren Einfluss auf das Konsumverhalten hat.
Die globale Einkommensungleichheit ist von 1820 bis 1910 angestiegen und schwankt seither auf hohem Niveau, ohne dass sich ein langfristiger Trend erkennen lässt (vgl. World Inequality Lab, 2021a: 55). Im Jahr 2020 lag das globale Verhältnis zwischen den einkommensstärksten 10 % und den einkommensschwächsten 50 % bei etwa dem gleichen Wert wie 100 Jahre zuvor (vgl. ebd.). Noch ungleicher als das Einkommen ist das weltweite Vermögen verteilt. Die ärmsten 10 % der Weltbevölkerung besitzen 2 % des weltweiten Vermögens, während die reichsten 10 % ganze 76 % des Vermögens auf sich vereinen können (vgl. World Inequality Lab, 2021b: 4). Zwischen 720 und 811 Millionen Menschen weltweit litten 2020 an Hunger (vgl. FAO et. al., 2021: 8), weitaus mehr Menschen sind von den Folgen von Mangel- und Fehlernährung betroffen (vgl. Development Initiatives, 2017).
Die Vermögens- und Einkommensunterschiede in Europa sind sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder groß, auch wenn Europa im Weltmaßstab die einkommensgleichste Region darstellt (vgl. World Inequality Lab, 2021b: 5).
Die Maßeinheit Purchasing Power Standards (PPS) wird genutzt, um vergleichende Aussagen über Länder mit unterschiedlichem Preisniveau treffen zu können, indem dieses bei den Berechnungen berücksichtigt wird.
Innerhalb der EU reichte das mediane verfügbare Äquivalenzeinkommen[1] 2016 von 4.724 PPS in Rumänien bis zu 27.834 PPS in Luxemburg (vgl. Eurostat, 2023a), während der Durchschnitt bei 16.468 PPS lag (vgl. European Commission. Statistical Office of the European Union., 2018: 9).
Diese innereuropäischen Unterschiede können dazu führen, dass die Umsetzung und der Bedarf unterschiedlicher Nischeninnovationen wie beispielsweise der Solidaritätstisch oder die soziale Landwirtschaft in den einzelnen Ländern unterschiedlich stark sind. Die Erfahrungen der Nischenpionier*innen lassen sich nicht zwangsläufig auf andere Länder übertragen.
Je gravierender die Vermögens- und Einkommensunterschiede sowie die Armutsgefährdung innerhalb der Länder, desto wahrscheinlicher ist die Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung vom Zugang zu nachhaltigen und gesunden Lebensmitteln. Im Jahr 2020 waren 21,5 % der Bevölkerung der EU-27 Staaten von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht (vgl. Eurostat, 2022). Dabei war Bulgarien am stärksten betroffen, während der Anteil an der Gesamtbevölkerung in Tschechien am niedrigsten war. Deutschland lag mit 21,6 % knapp über dem EU-Durchschnitt. Der Gini-Koeffizient, der genutzt wird, um Einkommensungleichverteilungen zu untersuchen[2], lag 2021 in den EU-27 Staaten bei 30,1 (vgl. Eurostat, 2023b). Besonders hoch war er in Bulgarien (39,7), Lettland (35,7) und Litauen (35,4). Am unteren Ende der Skala rangieren Slowenien (23,0), Belgien (24,1) und Tschechien (24,8).
Ein Blick auf einzelne Nationen kann Aufschluss darüber geben, wie eng die finanzielle Lage eines Haushalts mit dem Zugang zu nachhaltiger und gesunder Ernährung verbunden ist. Laut Laufenden Wirtschaftsrechnungen lagen in Deutschland 2020 die durchschnittlichen Ausgaben privater Haushalte für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke bei monatlich 343 € (vgl. Statistisches Bundesamt, 2021: 43). Während Arbeitnehmer/-innen bei überdurchschnittlichen 390 € lagen, gaben Haushalte mit arbeitslosen Haupteinkommenspersonen 234 € für den genannten Posten aus. Damit lagen sie über 100 € unter dem Durchschnitt. Im Jahr 2020 waren im Hartz-IV-Regelsatz für Alleinstehende (und Alleinerziehende) 150 € für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren vorgesehen (vgl. § 5 S. 1 RBEG), während Alleinlebende laut Laufenden Wirtschaftsrechnungen im selben Jahr durchschnittlich 228 € dafür ausgaben (vgl. Statistisches Bundesamt, 2021: 51). Diese Diskrepanz liegt in der Methode der Ermittlung der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben begründet, bei der die Haushalte[3]nach ihrem Nettoeinkommen aufsteigend gereiht werden und nach Abzug der auszuschließenden Haushalte die unteren 15 bzw. 20 Prozent als Referenzhaushalte herangezogen werden (vgl. § 1, 2, 3 & 4 RBEG). Im Jahr 2020 kam ein Gutachten des Wirtschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz zu dem Urteil, dass die Grundsicherung nicht ausreiche, um eine gesundheitsfördernde Ernährung zu finanzieren und empfahl eine Überprüfung der Berechnungsgrundlagen und -methoden der Regelbedarfsermittlung (vgl. WBAE, 2020: 114).
Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren
WBAE, 2020: 114
Mit der Einführung des Bürgergeld-Gesetzes vom 16.12.2022 wurde der Regelbedarf für Alleinstehende zum 01.01.2023 zwar um 53 € auf 502 € angehoben, im Regelbedarfsermittlungsgesetz wurden jedoch lediglich die Wörter „Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld“ durch das Wort „Bürgergeld“ ersetzt (vgl. Art. 12 Abs. 13 Bürgergeld-Gesetz (BGBl. I S. 2328)). Die Ermittlung der Referenzhaushalte hat sich nicht verändert. Die Erhöhung der Beiträge ergibt sich aus den neu eingeführten Regelungen zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen, die u. a. die zu erwartende regelbedarfsrelevante Preisentwicklung besser berücksichtigen soll (vgl. § 28a SGB). Caritas-Präsidentin Welskop-Deffaa erklärte, dass die Anpassung aufgrund der hohen Inflation der vorhergegangenen Monate zu einer faktischen Reduzierung der Kaufkraft der Betroffenen führe (vgl. Deutscher Caritasverband, 2022). Der Wohlfahrtsverband fordert eine “praxisgerechtere Methode zur Berechnung der Grundsicherungsleistungen” (vgl. ebd.).
Die finanzielle Ungleichverteilung innerhalb der Länder ist eng mit den Ernährungsgewohnheiten, dem Zugang zu ökologisch und sozial nachhaltig produzierten und gehandelten Lebensmitteln und somit auch mit der Transformation der Ernährungssysteme und der Sozialverträglichkeit dieser Entwicklungen verbunden. Die Kosten für eine nachhaltige Ernährung, die regionale, saisonale, pflanzenbasierte und biologisch produzierte Lebensmittel umfasst (vgl. Bürbaumer, 2022: 104f), belaufen sich auf einen weitaus höheren Betrag, als dies bei einer durchschnittlichen Ernährung der Fall ist (vgl. Eosta et al., 2017). Damit ist insbesondere finanziell benachteiligten Haushalten der Zugang zu einer nachhaltigen Ernährung erschwert, wenn nicht gar versperrt.
Studien weisen zudem darauf hin, dass besonders finanziell benachteiligte Menschen zur Fehl- und Mangelernährung tendieren (vgl. Fekete & Weyers, 2016 : 199f; Besora-Moreno et al., 2020: 7), wodurch sich die finanzielle Ungleichverteilung auch negativ auf die Bevölkerungsgesundheit auswirkt. In den EU-28 Staaten war Ende der 2010er Jahre die Wahrscheinlichkeit für Frauen und Männer der untersten Einkommensgruppe, Fettleibigkeit zu entwickeln, 90 % (Frauen) und 50 % (Männer) höher als für Gleichaltrige in der höchsten Einkommensgruppe (vgl. OECD, 2019: 20). Weitere Krankheiten wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einzelne Krebsarten und verfrühte Mortalität sowie eine eingeschränkte geistige Entwicklung werden mit einer Mangelernährung in Verbindung gebracht (vgl. Weltgesundheitsorganisation & FAO, 2003: 8).
Nischeninnovationen wie der Solidaritätstisch reagieren auf die Ungleichverteilung finanzieller Ressourcen, indem sie Lebensmittel, die andernfalls entsorgt werden würden, finanziell benachteiligten Menschen kostenfrei zur Verfügung stellen und diese u. a. in Gemeinschaft verarbeiten und verzehren (vgl. Engelhardt et al., 2020: 75). Dies kann schnelle Abhilfe schaffen und über die materielle Versorgung hinausgehende Ziele erfüllen, es wirkt sich jedoch nicht auf die Ungleichverteilung selbst aus. Im Rahmen der Nischen Essbare Städte und Waldgärten werden Lebensmittel teilweise kostenfrei zur Verfügung gestellt (vgl. Haack et al., 2020: 46, 95), dies findet jedoch in ausgesprochen geringem Umfang statt und kann nicht den Lebensmittelbedarf ganzer Bevölkerungsschichten decken.
Pionier*innen der Nischen Foodcoops, Slow-Food Restaurants und Solidarischen Landwirtschaften versuchen bisweilen, diese Situation durch “Pay-as-you-feel” Konzepte zu berücksichtigen (vgl. Haack et al., 2020: 40, 50, 80). Damit kann die Versorgung verbessert, die finanzielle Ungleichverteilung jedoch nicht behoben werden.
Auf Seiten weiterer Produzent*innen nachhaltiger Lebensmittel führt die Ungleichheit zu mangelnden Absatzmöglichkeiten und wirkt sich dadurch ebenfalls transformationshemmend aus. Eine starke finanzielle Ungleichverteilung innerhalb der Nationalstaaten sowie zwischen den europäischen Ländern wirkt sich auch auf die Umsetzung politischer Maßnahmen zur Transformation der Ernährungssysteme aus. So werden Instrumente, die sich auf den Preis von Lebensmitteln auswirken wie z. B. steuerpolitische Maßnahmen immer wieder mit Blick auf die “Sozialverträglichkeit” debattiert (vgl. u. a. Sackmann, 2022; Pelke, 2023). Auch zivilgesellschaftliche Ansätze sind betroffen. Es ist wichtig, zu betonen, dass es bei der Ernährungsarmut nicht nur um den Zugang zu Essen geht, sondern geringe finanzielle Mittel darüber hinaus Auswirkungen auf die soziale Teilhabe haben.
Wer nur wenige Euro am Tag für Ernährung ausgeben kann, ist ausgeschlossen von einer besonderen und nicht zu kompensierenden Dimension von Teilhabe an unserer Gesellschaft.
Pfeiffer, 2014: 3
Neben der finanziellen Lage der Haushalte nehmen weitere sozioökonomische Faktoren einen Einfluss auf den Zugang zu gesunder und nachhaltiger Ernährung sowie auf die Umsetzung von Nischeninnovationen.
Formale Bildung, Ernährungswissen und Ernährungsbewusstsein zählen zu den offensichtlichsten Einflussfaktoren auf die persönliche Ernährungsweise. Eine Metastudie zur Ernährung älterer Menschen unterschiedlicher Länder konnte beispielsweise einen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Bildungsniveau und einer Fehlernährung feststellen, wobei Fehlernährung als Unterernährung verstanden wurde (vgl. Besora-Moreno et al., 2020). Studien, die einen Zusammenhang zwischen Übergewicht bzw. Fettleibigkeit und niedrigem Bildungsniveau nachweisen konnten, wurden in der Metaanalyse als Gegenbeleg erfasst, während Übergewicht in anderen Kontexten in der Regel als Beleg für eine Fehlernährung gilt. Eine weitere Metaanalyse konnte feststellen, dass Menschen mit einem höheren Bildungsniveau eine größere Menge an Obst und Gemüse konsumieren (vgl. De Irala-Estévez et al., 2000: 709). Auch Bildung ist in Europa zwischen und innerhalb der Länder sowie zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt. Der Anteil der sogenannten Early Leavers (Menschen zwischen 18 und 24 Jahren, die höchstens einen Sekundarstufe II-Abschluss haben) an der Gesamtpopulation der 18 - 24-Jährigen war 2021 in Rumänien, Island und Spanien besonders hoch[4], während er in Kroatien, Slowenien und Griechenland besonders gering war[5] (vgl. Eurostat, o. J.). Der Anteil der Männer lag in nahezu allen Ländern über dem der Frauen. Der Anteil der Menschen mit Hochschulabschluss der 25 - 64-Jährigen war in diesem Jahr in Irland, Luxemburg und Norwegen am höchsten[6], in Rumänien, Italien und Kroatien am geringsten[7] (vgl. Eurostat, 2023c).
Die öffentlichen Ausgaben für Bildung (vorschulische bis tertiäre Bildung) gemessen am BIP lagen 2019 in Norwegen, Schweden und Island besonders hoch[8], während sie in Rumänien, Griechenland und Luxemburg besonders gering waren[9] (vgl. Eurostat. 2023d).
Die Bildung der Bevölkerung spielt für die Arbeit vieler Nischenpionier*innen eine Rolle, sowohl was die gezielte Ernährungsbildung als auch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bildungsniveaus betrifft. So widmen sich beispielsweise einzelne Vertical Farming-Projekte gezielt Wohngebieten, in denen vermehrt sozial benachteiligte Menschen leben, bieten Raum, eine Community zu bilden und tragen bewusst zur Ernährungsbildung der Bevölkerung bei (vgl. Throness et al., 2019).
Das Gärtnern auf dem Mietacker, die Mitarbeit in der solidarischen Landwirtschaft, die Koordinationsarbeit in Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften und Foodcoops befähigen für nachhaltige (Ernährungs-)Praktiken und festigen nachhaltige Ernährungsroutinen. Zudem sehen viele Projekte in der Bildungsarbeit eine wichtige Stütze ihres gesellschaftlichen Engagements
Wunder et al., 2018: 21
Zahlreiche Studien können einen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht einer Person und ihrer Ernährung feststellen. Dieser hängt mitunter mit den körperlichen Anforderungen zusammen und kann mit dem Alter und dem Zyklus einer Frau korrelieren. Für westliche Gesellschaften wurden jedoch auch Einflüsse durch die kulturelle Wahrnehmung von Lebensmitteln sowie ein unterschiedliches Gesundheits- und Gewichtsbewusstsein festgestellt (vgl. Arganini et al., 2012: 85).
Der Gender Inequality Index misst die Benachteiligung von Frauen im Bereich der reproduktiven Gesundheit, des Selbstbestimmungsrechts und der Beteiligung am Arbeitsmarkt. Er kann zufolge einer Studie über 96 Länder hinweg 36 % der Varianz von Babys mit niedrigem Geburtsgewicht und 41 % der Varianz der Kindersterblichkeit erklären (vgl. Marphatia et al., 2016). Simulationen zeigten, dass eine Reduktion des Gender Inequality Index in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu einer erheblichen Reduktion von Babys mit niedrigem Geburtsgewicht, Mangelernährung und Sterblichkeit von Kindern führen kann.
Auch die Verteilung von Übergewicht zwischen Männern und Frauen unterscheidet sich. Sie ist in den europäischen Ländern unterschiedlich (vgl. Eurostat, o. J.b). Während im Jahr 2019 in 17 der analysierten EU-Länder mehr Männer als Frauen als adipös galten, traf das umgekehrte Verhältnis in 10 Ländern zu. In drei weiteren Ländern, darunter Deutschland, war das Verhältnis ausgeglichen.
Das Geschlecht wird von einzelnen Nischenpionier*innen berücksichtigt, steht jedoch bei keiner der bisher ermittelten Nischeninnovationen (vgl. Engelhardt et al., 2020; Haack et al., 2020) im Fokus.
Es konnte festgestellt werden, dass Zusammenhänge zwischen dem Zugang zu gesunden Lebensmitteln und dem Wohnumfeld bestehen (vgl. Fekete & Weyers, 2016: 200 f.). So kann die Erreichbarkeit von großen Lebensmittelgeschäften sowie die Verfügbarkeit gesunder Lebensmittel in benachteiligten Gebieten eingeschränkt sein. Studien weisen höhere Verfügbarkeiten ungesunder Lebensmittel und mehr Werbung für Esswaren in sozio-ökonomisch benachteiligten Gebieten nach. Im Rahmen einer qualitativen Fallanalyse wurde die Distanz zu nachhaltigen Ernährungsmöglichkeiten (mit den Subkategorien Weg und Alternativlosigkeit) als eine Kostenform ermittelt, die eine nachhaltige Ernährung, trotz nachhaltiger Werteinstellung, verhindern kann (vgl. Engels & Pläschke, 2019: 35/51).
Die Bereitstellung nachhaltiger, regional erzeugter Lebensmittel spielt regelmäßig bei Unternehmen, Projekten und Initiativen eine Rolle, die der Nische Vertical Farming zugerechnet werden können (vgl. Benke & Tomkins, 2017: 19). Aber auch Nischen, die in der Regel geringere Mengen an Lebensmitteln hervorbringen, wie beispielsweise Gemeinschaftsgärten, Foodsharing, Solidaritätstisch, Essbare Städte und Waldgärten verfolgen mitunter das Ziel der Bereitstellung nachhaltiger Lebensmittel in benachteiligten Nachbarschaften (vgl. Engelhardt et al., 2020; Haack et al., 2020).
Das Alter kann ebenfalls einen Einfluss auf die Ernährung haben. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass höhere Altersgruppen häufiger von Mangel- und Fehlernährung sowohl in Form von Unterernährung und Nährstoffmangel als auch von Übergewicht und Adipositas betroffen sind (vgl. Agarwal et al., 2013; Mettlach et al., 2022). Die Ursachen für diese Zusammenhänge sind vielfältig und sind nicht zuletzt auf den körperlichen Alterungsprozess zurückzuführen (vgl. Mettlach et al., 2022: 52; Hickson, 2006). Da darüber hinaus ein Zusammenhang zwischen Alter und verfügbarem Einkommen besteht (vgl. Eurostat, 2023a), ist davon auszugehen, dass der Zugang zu nachhaltiger Ernährung für ältere Menschen erschwert ist.
Insbesondere die Nische der Sozialen Landwirtschaft befasst sich explizit mit älteren Bevölkerungsschichten. Sie stellen eine der Fokusgruppen dieser Betriebe dar (vgl. u. a. Hassink et al., 2007: 28; Haubenhofer et al., 2010: 108). Eine Studie zur Nahrungsaufnahme von älteren Menschen (ab 65 Jahren) in den Niederlanden konnte nachweisen, dass Menschen, die Tagespflegeeinrichtungen der sozialen Landwirtschaft besuchten, eine höhere Aufnahme an Proteinen, Kohlenhydraten und Flüssigkeit vorwiesen, als Menschen, die reguläre Tagespflegeeinrichtungen besuchten (vgl. De Bruin et al., 2010: 354 f.). Dabei ist die Nahrungsaufnahme nur ein Thema, welches in der sozialen Landwirtschaft eine Rolle spielt. Auch Einsamkeit, soziale Interaktion und körperliche Aktivität sind soziale Aspekte, die vom Alter berührt sind. Eine Studie zeigte, dass demente Menschen in niederländischen Pflegeeinrichtungen der sozialen Landwirtschaft häufiger an häuslichen und außerhäuslichen Aktivitäten teilnahmen, körperlich aktiver waren und häufiger soziale Interaktionen eingingen, als Menschen, die in regulären Pflegeeinrichtungen lebten (vgl. de Boer et al., 2017: 43).
Es bestehen Zusammenhänge zwischen dem Zugang zu nachhaltiger Ernährung und weiteren soziokulturellen, sozioökonomischen, strukturellen und psychosozialen Faktoren wie Selbstwirksamkeitserwartungen, soziale Unterstützung, Ernährungskompetenzen, Körperbild oder Sozialisation von Ernährungsgewohnheiten (vgl. u. a. Fekete & Weyers, 2016). Diese werden punktuell von einzelnen Nischenpionier*innen berücksichtigt, stehen jedoch nicht im Kern der Nischeninnovationen. Dennoch kann es hilfreich sein, sich dieser Faktoren bei der Umsetzung von Nischeninnovationen bewusst zu sein und die Zusammenhänge bzw. Ausprägungen im Umsetzungsland zu kennen.
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[1] Definition siehe: Glossar: Verfügbares Äquivalenzeinkommen - Statistics Explained
[2] Ein Gini-Koeffizient von 1 entspricht einer vollständigen Ungleichverteilung, während ein Koeffizient von 0 eine vollständige Gleichverteilung anzeigt. Zur Einordnung: Weltweit liegt der Gini-Koeffizient nach Daten der Weltbank bei 23.2 in der Slowakei (Daten von 2019) und 63.0 in Südafrika (Daten von 2014) (vgl. World Bank, 2022). Auf globaler Ebene lag der Gini-Index bei 0.67 (vgl. World Inequality Lab, 2021a : 56).
[3] § 3 Auszuschließende Haushalte RBEG
[4] zwischen rund 13 und 15%
[5] zwischen rund 2 und 3 %
[6] zwischen rund 47 und 52 %
[7] zwischen rund 18 und 24 %
[8] zwischen rund 6,1 und 7,5 %
[9] zwischen rund 3,2 und 3,7 %
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