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Verfasst von Lydia Kitz, Helen Engelhardt, Clara Menke
Letzte Aktualisierung: 05.06.2023
Die Ernährung steht in einem engen Zusammenhang zur Gesellschaft und zahlreichen sozialen Aspekten. Bayer et al. (vgl. 1999: 19) beschreiben die Ernährung und die Mahlzeit nach dem Sozialwissenschaftler Mauss als ein „phénomène social total“ (soziales Totalphänomen). Das soll verdeutlichen, dass es sich dabei um etwas handelt, dass nicht nur “einzelne Aspekte oder Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betrifft”, sondern eine umfassende gesellschaftliche Bedeutung “u. a. in wirtschaftlicher, politischer, religiöser, rechtlicher, kultureller, ästhetischer und sozialmorphologischer Hinsicht” hat. Folgerichtig hat sich neben der naturwissenschaftlichen Ernährungsforschung auch eine sozialwissenschaftliche Ernährungsforschung entwickelt (vgl. Bayer et al., 1999: 16).
Darüber hinaus hat sich in den Sozialwissenschaften mit Blick auf Umweltthemen als Pendant zu der technisch-naturwissenschaftlichen Umweltforschung die sozialwissenschaftliche Umweltforschung etabliert (vgl. Müller-Rommel, 2001: 1 f.). Zu den Forschungsfeldern zählen die Teildisziplinen Umweltpolitologie, Umweltplanung, Umweltsoziologie, Umweltbildung, Umweltberatung und Umweltkommunikation sowie Umweltpsychologie (vgl. ebd.: 7). Die Entwicklungen der neuen Teildisziplinen können einen Eindruck davon vermitteln, wie relevant die Ernährung für die sozialwissenschaftliche Forschung ist. Bei der Umsetzung von Nischeninnovationen ist die Kenntnis und Beachtung zahlreicher sozialer Aspekte erforderlich oder zielführend. Zudem sind es häufig soziale Problematiken, denen sich Nischenpionier*innen annehmen oder die sie bei ihrer Arbeit berücksichtigen.
In Deutschland und Europa gibt es eine Vielzahl von sozialen Herausforderungen, die eine nachhaltige Ernährung erschweren oder die von der Transformation hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen betroffen sind. Dazu gehören die Ungleichheit im Zugang zu gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln, Ernährungsarmut, die Diskriminierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen wie Migrant*innen und Menschen mit niedrigem Einkommen, die Ausbeutung von Arbeitskräften in der Lebensmittelindustrie und in der Landwirtschaft sowie die ungleiche Verteilung von Ernährungsbildung und -wissen. Diese Herausforderungen können nicht allein durch individuelle Entscheidungen gelöst werden, sondern erfordern politische Maßnahmen und gesellschaftliche Veränderungen.
Die Europäische Union hat es sich zum Ziel gesetzt, eine nachhaltige Ernährung für alle zu gewährleisten, indem sie unter anderem den Zugang zu gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln anstrebt (vgl. European Commission, 2020). Dies erfordert innovative Lösungen, die insbesondere auf die Bedürfnisse von Menschen mit niedrigem Einkommen und aus sozial benachteiligten Gruppen abgestimmt sind. Nischeninnovationen wie Solidaritätstisch, Essbare Städte, Open Source-Samenbanken und Saatgutschutz, Open Source-Anleitungen für technische Hilfsmittel und Gemeinschaftsgärten tragen dazu bei, den Zugang zu gesunden Lebensmitteln zu verbessern und soziale Ungleichheit zu verringern. Die Erfordernisse, die für eine Verringerung der gegebenen Ungleichheit in Deutschland, Europa und weltweit notwendig sind, gehen jedoch oftmals über das hinaus, was Nischenpionier*innen leisten können. An dieser Stelle sind politische Entscheidungsträger*innen und andere gesellschaftliche Akteur*innen (Gewerkschaften, Sozialverbände, NGOs etc.) gefragt (→ vgl. Kapitel: Wechselwirkungen zwischen Ungleichheit und nachhaltiger Ernährung).
Das Konzept der Ernährungssouveränität beinhaltet mehr als den Zugang zu Nahrung. Es umfasst das Recht auf Nahrungssicherheit und -vielfalt, den Schutz der natürlichen Ressourcen und der Umwelt, die Wahrung der kulturellen Identität und der sozialen Gerechtigkeit (vgl. European Coordination Via Campesina, 2018) (→ vgl. Kapitel: Ernährungssouveränität).
Insbesondere mit Blick auf die durch unser Ernährungssystem stark beanspruchten natürlichen Ressourcen sowie die negativen Umwelteinflüsse bildet die Generationengerechtigkeit einen weiteren wichtigen sozialen Aspekt unserer Ernährung. Auch wenn das Konzept inzwischen Einzug in die Gesetzgebung gefunden hat, ist die Verletzung dieses Prinzips allgegenwärtig (→ vgl. Kapitel: Zum Zusammenhang zwischen Generationengerechtigkeit und Ernährung).
Open-Source, Open-Access, Open Knowledge und Creative Commons Projekte setzen sich für die freie Zugänglichkeit zu Wissen, Daten und Ressourcen ein. Zahlreiche Nischenpionier*innen engagieren sich in diesem Bereich und schaffen es dadurch, die inter- und intragenerationale Gerechtigkeit und den Zugang zu nachhaltiger Ernährung zu verbessern (→ vgl. Kapitel: Open Source, Open Access, Open Data).
In den letzten Jahren haben sich viele positive Entwicklungen ergeben. Eine wachsende Zahl von Verbraucher*innen setzt auf eine nachhaltige Ernährung und es gibt eine Zunahme von Initiativen und Projekten, die sich mit den sozialen Aspekten einer nachhaltigen Ernährung beschäftigen. Die politischen Entscheidungsträger*innen beginnen ebenfalls, Maßnahmen zu ergreifen, um eine nachhaltige Ernährung zu fördern, wie z. B. die Förderung von Bio-Landwirtschaft, die Unterstützung von Ernährungsräten und die Erarbeitung von Ernährungsstrategien.
Bayer, O., Kutsch, T., & Ohly, H. P. (1999). Ernährung und Gesellschaft: Forschungsstand und Problembereiche. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
European Commission. (2020). Farm to Fork Strategy. For a fair, healthy and environmentally-friendly food system. European Union.
European Coordination Via Campesina (Hrsg.). (2018). Food Sovereignty now! A guide to food sovereignty.
Müller-Rommel, F. (2001). Einführung in die Sozialwissenschaftliche Umweltforschung. In F. Müller-Rommel (Hrsg.), Sozialwissenschaften (S. 1–20). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-56772-8_1
Dieser Beitrag steht unter CC BY Lizenz. Urheber ist NAHhaft e. V.
Dieser Text ist ein Bestandteil des Ressourcenpools zur Förderung von Nischeninnovationen auf https://www.ernaehrungswandel.org/ressourcenpool.